Bei der Leichtathletik-DM ist für Tobias Unger so gut wie alles möglich
Reise ins Ungewisse

Obwohl die Saison für ihn bislang alles anderes als gut verlaufen ist, rechnet sich Tobias Unger bei den deutschen Leichtathletikmeisterschaften am Wochenende in Kassel etwas aus. Nicht zuletzt wegen der offenkundigen Leistungsstagnation der DLV-Sprint-Elite.

Kirchheim. Die vermeintlich schnellsten Männer zwischen Flensburg und Garmisch kommen 2011 einfach nicht in Schwung. Seit Ende Mai ist die Top Drei der DLV-Bestenliste über 100 Meter unverändert, als der Stuttgarter Alex Schaf beim Meeting in Weinheim in 10,33 Sekunden vor Münchens Marius Broening (10,34) und Aleixo Platini Menga aus Leverkusen (10,37) gewann – im europäischen Vergleich reicht das nicht mal für die Top 30, weltweit waren bis dato insgesamt sogar knapp 200 Sprinter schneller.

„In dieser Saison läuft‘s einfach bei keinem nach Plan“, zuckt der Mann, der vergangene Saison mit 10,14 Sekunden die deutsche 100-Meter-Bestenliste anführte, die Schultern. Tobias Unger kann sich die Leistungsstagnation, von der auch er mit bislang nur mäßigen 10,45 Sekunden betroffen ist, nur bedingt erklären. „Das Wetter seit Mai war zu unbeständig für bessere Zeiten. Da verletzt man sich auch schneller.“

Wie zum Beweis dieser These wird die Liste der Absagen für die deutschen Meisterschaften am Wochenende in Kassel immer länger. Nach Stefan Schwab, Alexander Kosenkow und Martin Keller hat kurzfristig auch Aleixo Platini Menga verletzungsbedingt passen müssen – die Liste der Titelfavoriten ist mittlerweile so kurz, dass Unger sich berechtigte Hoffnungen auf sein viertes nationales 100-Meter-Gold nach 2005, 2008 und 2009 machen darf.

Und das, obwohl die Vorbereitung auf die DM alles andere als optimal verlief. Um in Sachen Studium voran­zukommen, hat der 32-Jährige seit Saisonbeginn mehr Zeit auf der Unibank als beim Training verbracht, zuletzt stand am vergangenen Montag die abschließende Prüfung in Französisch auf dem Programm. „Mir war klar, dass ich deswegen in dieser Saison ein paar Hundertstelsekunden auf der Bahn liegen lasse“, so Unger, „aber ich wollte das dieses Semester so durchziehen, damit ich im Herbst fertig mit dem Studium werde.“ Schließlich sieht der Masterplan eine ungestörte Vorbereitung auf das große (Fern-)Ziel im kommenden Jahr vor: die Olympischen Spiele in London, wo Unger zum Abschluss seiner Karriere Teil der schwarz-rot-goldenen 4x100-Meter-Staffel sein will.

Ob der Weg dorthin für das DLV-Quartett über die WM im südkoreanischen Daegu führen wird, ist derzeit noch unklar. Obwohl die Staffel mit Unger bereits für die Welttitelkämpfe im August qualifiziert ist, hat der DLV noch nicht durchblicken lassen, ob er eine 4x100-Meter-Abordnung nach Fernost schicken wird. Zu oft musste die Staffel in den vergangenen Wochen und Monaten verletzungsbedingt umgestellt werden. Die Entscheidung fällt am Montag, wenn der Verband in Darmstadt sein WM-Aufgebot offiziell bekannt gibt.

Spätestens dann wird auch klar sein, ob ein DLV-Sprinter für einen Einzelwettbewerb nominiert wird. Momentan hat noch niemand die geforderte WM-Norm über 100 (10,18 Sekunden) oder 200 Meter (20,54) geknackt. Am nächsten dran war noch der Wattenscheider Sebastian Ernst mit 20,58 Sekunden über 200 Meter. Die Wahrscheinlichkeit, dass am Wochenende in Kassel die Normen purzeln werden, ist allerdings gering. Der Wetterbericht prophezeit nasskalte Bedingungen, was schnellen Zeiten naturgemäß abträglich ist.

„Es würde mich sehr wundern, wenn jemand die Norm knackt“, glaubt auch Tobias Unger, dessen Wettkampfplan für Kassel übrigens noch nicht hundertprozentig steht: Einen Start über 200 Meter (Sonntag ab 16.20 Uhr) macht der Kirchheimer vom Verlauf der 100-Meter-Konkurrenz (Samstag ab 16.55 Uhr) abhängig. Hintergrund sind Probleme mit dem Oberschenkelbeuger, die ihn bis Mitte vergangener Woche behinderten, mittlerweile aber auskuriert sind. „Deswegen fahre ich auch mit keinerlei Erwartungen nach Kassel“, so Unger, „die Priorität liegt darauf, verletzungsfrei durchzukommen.“

Eine Reise ins Ungewisse hat auch Kirchheims zweites Aushängeschild bei der DM vor sich. Anja Wackershauser hat seit den Landesmeisterschaften Mitte Juni in Oberkirch, die sie durch einen Mandelentzündung geschwächt absolvieren musste, keinen Wettkampf mehr bestritten, befindet sich seitdem im Aufbautraining. „Ich habe keinerlei Anhaltspunkt, was die Leistungsfähigkeit angeht“, zuckt sie vor ihren DM-Einsätzen über 200 Meter (Sonntag ab 16 Uhr) und der 4x100-Meter-Staffel des VfB Stuttgart (Samstag ab 11.35 Uhr) die Schultern. „Über 200 Meter hoffe aufs Finale, das wäre ein Traum“, so die 23-Jährige, die heuer als einzige Richtzeit die 24,46 Sekunden aus Oberkirch zu Buche stehen hat.

Die Staffel mit Wackershauser und ihren VfB-Vereinskolleginnen Anke Hummel, Franziska Dobler und Ann-Kathrin Fischer droht derweil zum Lotteriespiel zu werden – Fischer konnte aufgrund einer Lendenwirbelentzündung nicht trainieren, Ersatzfau Daniela Hohneiser ist ebenfalls angeschlagen. „Wir haben keine Wechsel üben können. Mal schauen, ob wir überhaupt laufen werden“, so Wackershauser.