Einfach mal hinfahren und ein bisschen von der Luft schnuppern. Sie ist ja noch so jung. Bei allen Plänen, die perfekt aufgegangen sind – dieser nicht. Als Hospitantin nach Peking gereist, mit fünf Medaillen um den Hals zurückgekehrt – schwer zu fassen, was im Kopf einer 15-Jährigen vor sich geht, die binnen weniger Tage die Welt ihres Sports aus den Angeln gehoben hat. Kaum einer hatte sie vor Wochen auf dem Zettel. Spätestens seit Gold am Samstag im paralympischen Langlaufrennen über zehn Kilometer kennt jeder den Namen Linn Kazmaier.
Für die Eltern heißt das nach der Rückkehr am späten Montagabend erst einmal: Schotten dicht – so gut es eben geht. Linn genoss den ersten Tag nach zwölfstündigem Flug daheim in Oberlenningen gestern auf ihre Weise: ausschlafen bis elf, Mittagessen bei der Oma, Koffer auspacken, Wäsche waschen. Ein bisschen wirkt sie wie die Zuschauerin, die sich verwundert auf der Bühne erkennt. Was in den Tagen über sie hereingebrochen ist? „Schon krass“, meint sie, „weil wir sonst ja nicht so die Aufmerksamkeit bekommen.“
Dabei deutet vieles daraufhin, dass dies erst der Anfang ist. Sie ist jung, sie ist entwicklungsfähig und sie hat den Fokus auf dem Wesentlichen. „Linn hat vor allem technisch in diesem Jahr unheimliche Fortschritte gemacht“, sagt ihr Begleitläufer Florian Baumann. Was sie an ihm schätzt? „Florian sieht jeden Kurs mit den Augen einer Sehbehinderten“, sagt Linn. „Und er kann mich unglaublich gut motivieren.“ Es ist erst der zweite Winter, den sie gemeinsam bestreiten, und glaubt man beiden, dann werden noch viele folgen. Im Sommer könnte es sogar passieren, dass ihr Denken in paralympischen Vier-Jahres-Zyklen aus dem Takt gerät. Als sportliches Multitalent ist die 15-Jährige auch eine Kandidatin für die Sommerspiele. Im Mai findet im italienischen Jesolo der erste Klassifizierungs-Wettkampf auf ihrer Paradestrecke, den 1500 Metern, statt. Es ist die erste Weichenstellung in Richtung Weltmeisterschaft im September 2023 in Paris, die als Generalprobe für die Paralympics ein Jahr später an gleicher Stelle dient. Sollte dieser Traum wahr werden, könnte sich Florian Baumann gut vorstellen, auch hier an ihrer Seite zu sein. „Warum nicht“, meint der 21-jährige Biathlet. „Von den körperlichen Anforderungen her wäre das vermutlich kein Problem.“
Für Baumann, der aus Balzholz stammt und in Freiburg Sport und Politik auf Lehramt studiert, ist es die Karriere nach der Karriere. Das Gefühl, dass es nach ganz oben nicht reicht, hat ihn mit 19 Jahren dazu bewogen, den Leistungssport an den Nagel zu hängen. Dann kam Linn, die den Ehrgeiz neu in ihm geweckt und seinen Blick auf den Sport – wie er sagt – geweitet hat. Medien haben daraus eine „Linn-win-Situation“ kreiert. Fordernd ist das, was auch Baumann als Taktgeber in der Loipe leisten muss, noch immer. Anfeuern, Kommandos geben, immer im Renntempo. „Das sorgt auch bei mir für entsprechenden Puls“, sagt er.
Zurück auf die Schulbank
Der wird bei beiden erst mal nur noch im Grundlagenbereich schlagen. Die kommenden ein bis zwei Wochen soll im Training der Spaß im Vordergrund stehen. Durch den langen Langlaufwinter behält Linn Kazmaier auch ohne frühe Wettkampftermine in der Leichtathletik ihren Kaderstatus. Dann ist da auch noch die Schule, die bereits am Donnerstag wieder beginnt. Trotz ihres zeitlichen Trainingspensums gilt sie in der 9. Klasse der Freiburger Staudinger-Gesamtschule als eine der Besten. „Ich kann mir Sachen zum Glück gut merken“, sagt sie. „Linn ist unglaublich zielstrebig und top organisiert“, urteilt Ralf Strohmeier, der als Verbindungslehrer Kontakt zum Olympiastützpunkt hält. Wenn sie am Donnerstag zurück sein wird, ist eine schulinterne Feierstunde mit allen Klassen ihres Jahrgangs geplant. Gestern eingetroffen ist auch das Glückwunsch-Schreiben von Kultusministerin Theresa Schopper, das ihr der Schulleiter überreichen wird.
Derart im Mittelpunkt zu stehen, ist eigentlich nicht ihr Ding. „Ein bisschen mehr Ruhe wäre schon schön.“ Der Satz kommt von Herzen. Zudem hat sie ein ganz anderes Problem: Sie kann sich nicht entscheiden, welche Medaille in ihrem Zimmer an der Wand hängen soll. Im Zweifelsfall Gold? Falsch gedacht. „Gold oder Silber ist gar nicht so wichtig“, sagt sie betont. „Entscheidend ist das perfekte Rennen.“