Lokalsport
„Sport ist nicht nur Selbstzweck“

Interview Der Bewegungsmangel bei Kindern ist alarmierend. Die in der Teckregion aufgewachsene Sportprofessorin Pamela Wicker von der Uni Bielefeld spricht über die Verantwortung der Eltern, die Rolle der Schulen und Vereine sowie den November-Lockdown im Sport. Von Peter Eidemüller

Sport und Bewegung sind bei Kindern offenbar weniger eine Frage des Wollens oder Könnens, sondern eher eine Frage der elterlichen Prägung - was machen Eltern in Deutschland falsch?

Für das Sport- und Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen spielen die Eltern eine wichtige Rolle und haben auch Vorbildfunktion. So zeigen wissenschaftliche Studien, dass Kinder und Jugendliche mit einer höheren Wahrscheinlichkeit sportlich aktiv sind, wenn die Eltern dieses Verhalten vorleben. Allerdings ist nicht nur die eigene Aktivität ausschlaggebend, sondern auch die Unterstützung von Sport- und Bewegungsaktivitäten. Auch die aktive Freizeitgestaltung innerhalb einer Familie kann die Kinder und Jugendlichen prägen, zum Beispiel ob regelmäßig Spaziergänge oder Unternehmungen im Freien mit körperlichen Aktivitäten gemacht werden.

In vielen Familien sind beide Elternteile berufstätig, sprich: die Zeit für genügend Bewegung mit den Kindern ist knapp bemessen - macht man es sich damit zu einfach?

Natürlich spielt die zeitliche Verfügbarkeit der Eltern eine Rolle, insbesondere im Hinblick auf gemeinsame sportliche und körperliche Aktivitäten unter der Woche. Wenn Eltern selbst keine Zeit haben, kann zumindest teilweise auch auf Angebote von Sportvereinen oder Schulen zurückgegriffen werden. Wichtig ist zunächst auch die Schaffung eines Bewusstseins seitens der Eltern, dass Bewegung und Sport nicht nur Selbstzweck sind, sondern auch einen gesundheitlichen Nutzen aufweisen. Darüber hinaus zeigen sich in der Forschung positive Effekte auf Wohlbefinden, Ausgeglichenheit, Konzentrationsfähigkeit und kognitive Fähigkeiten. Deshalb verwundert es nicht, dass in vielen wissenschaftlichen Studien sportliche Aktivität oft mit besseren Schulnoten einhergeht.

Anders gefragt: Können Vereine und (Ganztags)Schulen die Versäumnisse von Eltern bei der Bewegungserziehung ausgleichen?

Schulen und Vereine können natürlich auch zur Bewegungserziehung von Kindern und Jugendlichen beitragen, aber sie können diese Funktion nicht alleine stemmen. Im schulischen Kontext kann in heterogenen Klassen auch gar nicht auf alle individuellen Anforderungen und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eingegangen werden. Auch findet der Sportunterricht nur rund zwei Mal pro Woche statt. Insbesondere der Schwimmunterricht und das Schwimmenlernen können im schulischen Kontext oft nicht ausreichend abgedeckt werden. Die Sportvereine schaffen vielfältige Angebote, sind aber natürlich auch oft an die zeitliche und örtliche Verfügbarkeit von Sportstätten gebunden.

In diesem Zusammenhang wird der zunehmende Statusverlust des Leistungssports kritisiert, zumal Anstrengungsbereitschaft bei Kindern angeblich erhebliche Kräfte freisetzen würde und das Sozialverhalten stärke. Stimmt das?

Es zeigt sich in der Tat in wissenschaftlichen Studien eine etwas rückläufige Akzeptanz des Leistungs- und Spitzensports in der Bevölkerung. Das ist problematisch im Hinblick auf die Vorbildfunktion von Sportlerinnen und Sportlern sowie für die eigenen sportlichen Ambitionen von Kindern und Jugendlichen. Auch hier geht es nicht nur um die sportliche Leistung per se, sondern auch um damit verbundene Fähigkeiten wie natürlich Anstrengungsbereitschaft, aber auch zielgerichtete Vorbereitung, Abliefern von Leistung unter Stress-/Wettkampfbedingungen, Teamfähigkeit, Zeit- und Selbstmanagement durch Mehrfachbelastung, Durchhaltevermögen und Hartnäckigkeit sowie Weitermachen trotz Rückschlägen. Das alles kann beim Leistungssport gelernt werden und strahlt natürlich auch in andere Lebensbereiche aus.

Inwieweit verschärft Corona die ganze Problematik, gerade vor dem Hintergrund des für November verhängten „Sport-Lockdowns“?

Die mit der Corona-Pandemie verbundenen Einschränkungen für den Breiten- und Leistungssport sind tiefgreifend, insbesondere für Kinder und Jugendliche. So fehlt durch die Schließung vieler Sportstätten und dem damit verbundenen Wegfall der entsprechenden Sportangebote ein Ausgleich zur Schule. Die positiven Effekte von Sport und körperlicher Aktivität auf Gesundheit und Wohlbefinden können somit nur bedingt auftreten. Ebenso entfallen Teile einer gewohnt strukturierten Freizeitgestaltung, wenn Sportstätten für den Breiten- und Leistungssport geschlossen werden. Peter Eidemüller

Zur Person Pamela Wicker ist Professorin für Sportmanagement und Sportsoziologie an der Universität Bielefeld, Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft. Die gebürtige Nürtingerin, die in Notzingen aufwuchs und ihr Abitur in Kirchheim machte, promovierte und habilitierte sich an der Deutschen Sporthochschule Köln, bevor die 41-Jährige eine Professur an der Universität Bielefeld erhielt.