Wer Belege sucht, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft, der findet sie auch oder gerade im Kreis Esslingen. Im Landkreis mit einem der höchsten Pro-Kopf-Einkommen in Baden-Württemberg sind knapp 30 000 Menschen auf staatliche Hilfe angewiesen. Jedes fünfte Kind im reichen Südweststaat ist von Armut bedroht, bei jedem zweiten reicht das Geld der Familie nicht für eine Mitgliedschaft im Sportverein, geschweige denn für eine eigene Ausrüstung.
Landkreisverwaltung, Sportkreis und Partner wie die Caritas wollen das ändern. Seit vergangenem Frühjahr widmet sich ein kreisweites Netzwerk dem Thema Kinderarmut. Jetzt sollen erstmals auch die Sportvereine mit ins Boot und sich im November an der landesweiten Aktionswoche „Mach dich stark“ unter dem Dach der Caritas-Kinderstiftung beteiligen. Für den Esslinger Landrat Heinz Eininger ist dies der richtige Zeitpunkt. Nicht nur wegen Corona, das Kinder in die Isolation getrieben hat, etwa die Hälfte der Menschen, die zurzeit aus der Ukraine hierher kommen, sind Kinder. „Wir wollen verhindern, dass Karrieren vorgezeichnet sind“, sagt Eininger und setzt dabei auch auf den Sport: „Was Vereine in diesem Zusammenhang bieten, kann kein soziales Angebot ersetzen.“
Den Kontakt mit Schulen und Kitas vertiefen, um Familien zu erreichen und zu ermutigen, Paten finden, die Kinder und Eltern an die Hand nehmen, letztlich auch Lotse sein im Dschungel der vielfältigen staatlichen Hilfen, die der Landkreis anbietet – darum geht es. Weil Armut oft mit Scham
Margot Kemmler, Vorsitzende im Sportkreis Esslingen, hält es für wichtig, das Thema sichtbar zu machen und mit der Politik zusammenzuarbeiten. „Wir müssen laut werden“, sagt sie. „Und wir wollen zeigen, wir sind da und reichen die Hand.“
Wie entscheidend der Beitrag zum gesellschaftlichen Miteinander sein kann, zeigen diese Zahlen: Rund ein Drittel der knapp 150 000 Mitglieder in 374 Sportvereinen im Kreis sind unter 18 Jahren. Was sie beim Sport erfahren, geht weit über Körperlichkeit und gesundheitsfördernde Aspekte hinaus. Hier lernt man Kultur kennen, wird Solidarität und Demokratie gelebt und werden grundlegende Werte wie Verlässlichkeit, Teamfähigkeit oder Pünktlichkeit vermittelt. „Es geht auch darum, mitgestalten zu können und dabei Fehler machen zu dürfen“, sagt die Sozialhilfeplanerin im Landratsamt, Astrid Spurk. Sie kennt die größten Risiken, wenn es um Ausgrenzung und fehlende Teilhabe geht: Kinder Alleinerziehender und aus Familien mit Migrationshintergrund sind besonders häufig von Armut betroffen. Dabei heißt Armut nicht nur, kein Geld zu haben. Es geht um Ausgrenzung, um fehlende Bildungschancen, auch um Krankheit.
Dass der Sport als Teil der Gesellschaft seinen Beitrag leisten kann, davon ist auch Biluge Mushegera von der Kinderstiftung Esslingen-Nürtingen überzeugt. Der jungen Frau mit afrikanischen Wurzeln fällt dabei ein altes Sprichwort aus ihrer Heimat ein: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“
Mehr als 500 Haushalte nutzen den Stadtpass
In Kirchheim haben vor Beginn der Pandemie 1430 Personen aus 503 Haushalten den Stadtpass genutzt. Er ermöglicht Menschen mit geringem Einkommen zahlreiche Angebote des kulturellen und sozialen Lebens entweder vergünstigt oder sogar kostenlos in Anspruch zu nehmen. Den Stadtpass können sowohl Familien mit Kindern wie auch Senioren beim Sozialamt der Stadt beantragen. Die Einkommensgrenze liegt für Alleinlebende bei einem monatlichen Nettoeinkommen von 1025 Euro, für einen Vier-Personen-Haushalt bei 2383 Euro.
Im VfL Kirchheim reduziert sich der Jahresbeitrag mit dem Stadtpass um 30 Prozent. Über das Esslinger Jobcenter können Familien mit geringem Einkommen auch die vollständige Erstattung beantragen.
Für Doris Imrich, die Vorsitzende des VfL Kirchheim mit seinen mehr als 4000 Mitgliedern führt der Weg zu sozial benachteiligten Familien und Kindern nur über Kitas und Schulen. Im Handball und Basketball gibt es über viele Jahre gewachsene Kooperationen mit sogenannten Brennpunkt-Schulen wie der Kirchheimer Alleenschule. Im Fußball werde bei den Kleinsten oft ein Auge zugedrückt, wenn Geschwister am Training teilnähmen, sagt Imrich. „Entscheidend ist, dass die Kinder versichert sind.“ Im VfL gibt es dafür eine Basisversicherung für Nichtmitglieder. Imrich betont: „Wir sind dem Thema gegenüber aufgeschlossen.“ Es sei jedoch oft schwer, an betroffene Familien heranzukommen. Der Verein stehe im Austausch mit Sozialamt und Jugendhilfe in der Stadt. „Eltern müssen auch von sich aus aktiv werden“, sagt die Vereinsvorsitzende. bk