Respekt statt Furcht, Selbstbewusstsein statt Überheblichkeit und weiterhin: raue Alb statt mediterranes Wohlfühl-Wetter: Jannik Steimle bleibt auch im besten Radteam der Welt seinen Grundsätzen treu. „Was nützt mir Training bei 25 Grad unter spanischer Sonne, wenn ich bei den Frühjahrsklassikern im Schneeregen am Start stehe“, sagt er. Rennhärte ausspielen an Tagen, an denen man keinen Hund vor die Tür jagen würde, heiß zu sein in Momenten, in denen andere lieber im Bett blieben, das ist seit jeher sein Pfund, mit dem er wuchern kann. Und mit ein Grund, weshalb ihn mit Deceuninck Quickstep der belgische Branchenführer im Weltradsport im Herbst unter Vertrag genommen hat.
Bis Ende Januar ist die raue Alb, sind die Anstiege rund um seinen Heimatort Weilheim das Trainingsrevier. Dann geht die Reise nach Kolumbien. Zwei Wochen Höhentrainingslager, am Ende die sechstägige Tour of Colombia - es ist der Einstieg in eine Rennsaison, von der er sagt: „Ich kann kaum erwarten, dass es endlich los geht.“
Ein halbes Jahr wie im Zeitraffer liegt hinter ihm. Wenn er sich am frühen Morgen das Trikot in Königsblau überstreift, ist da noch immer die Furcht, das dies alles nur ein Traum sein könnte. Fünf Monate sind seit seinen beiden Etappensiegen bei der Österreich-Rundfahrt vergangen. Im Jersey des drittklassigen Rennstalls Team Vorarlberg stürmte er binnen einer Woche ins Rampenlicht. Seitdem ist nichts mehr, wie es war. Was es heißt, in der Premierleague des Radsports angekommen zu sein, lernt er immer noch fast täglich neu kennen: ein eigener Manager, ein Stab von Ärzten, Physiotheraputen und Mechanikern, ein Küchenteam, das sich im Trainingslager um die richtige Ernährung kümmert und wildfremde Menschen, die ihm anerkennend auf die Schulter klopfen, wenn er in Brüssel aus dem Flugzeug steigt. Keinen Fußballer, den 19-jährigen Remco Evenepoel, der Steimles Teamkollege ist, hat man hier zum Sportler des Jahres gewählt. Die Belgier sind die größte Radsportnation in Europa und wohl in der ganzen Welt. Das macht sich auch in einem Team wie Quickstep bemerkbar, wo selbst Newcomer wie Steimle sich nur um eines kümmern müssen: Radfahren - und das möglichst schnell.
Längst steigt die Fieberkurve mit jedem Tag, der ihn dem Frühjahr näher bringt. Den Rennkalender hat das Team noch nicht offiziell verkündet, doch schon jetzt steht fest: Zwölf Jahre nach dem Nürtinger Stefan Schumacher wird am 19. April in Maastricht wieder ein Rennfahrer aus der Region beim Amstel Gold Race am Start stehen, einem der bedeutendsten Frühjahrsklassiker der Weltserie. Vorläufiger Höhepunkt wird für ihn Mitte August die Spanien-Rundfahrt sein. Die Vuelta ist nach Giro d‘Italia und Tour de France die letzte der drei großen Rundfahrten im Jahr und für jeden Debütanten die Feuertaufe. „Gleich zu Beginn bei einer Grand Tour dabei sein zu dürfen, zeigt mir, dass Vertrauen da ist“, freut sich Jannik Steimle. Vertrauen, dass er sich nach seinem Einstand im Herbst mit zwei überraschenden Siegen hart erarbeitet hat. „Natürlich hat man im ersten Jahr auch Schiss“, sagt er. „Vorallem habe ich richtig Bock auf jedes Spiel, in dem ich in der Startelf stehe.“
Eine reibunglose Vorbereitung schenkt zudem Selbstvertrauen. Keine Krankheiten, keine Verletzungen wie im letzten Jahr. „Ich hatte keinen einzigen Fehltag im Training. Meine Leistungswerte waren schon im Dezember richtig gut“, sagt Steimle.
Das macht Hoffnung zu Beginn eines Jahres, in dem nichts mehr so sein wird wie früher. „Für mich beginnt ein neuer Lebensabschnitt“, sagt er und meint damit nicht nur den Sport. Im Mai zieht er aus dem Elternhaus in Weilheim aus und mit neuer Freundin in Schorndorf erstmals in eine gemeinsame Wohnung. Was für Weilheim galt, wird auch hier gelten: Viel Zeit wird er dort wohl nicht verbringen.