Kein Kontakt zu anderen und trotzdem im Hotel an Spaniens sonninger Küste. Geht das? Es geht, wenn man wie der belgische Radrennstall Deceuninck Quick Step einfach die ganze Anlage für sich allein reserviert. Training in der Blase - das führende Team in der World Tour ist eines der ganz wenigen, das sich in Pandemiezeiten den Luxus erlaubt, dem Winter im Norden zu entfliehen. Ärzte, Physiotherapeuten, Mechaniker und Teambetreuer unterstützen die Mannschaft mit knapp 30 Fahrern um Weltmeister Julian Alaphilippe, Sprintstar Sam Bennett und Neuzugang Marc Cavendish.
Nachwuchsmann Jannik Steimle hat nach einem ereignisreichen Herbst und seinem starken Auftritt im November bei der Vuelta die drei Wochen Heimaturlaub unter der Limburg genossen. Zeit, in Ruhe Papierkram zu erledigen, den Umzug in die neue Wohnung vorzubereiten, die er mit Freundin Lara im neuen Jahr in Schorndorf beziehen will und natürlich Fanpost zu beantworten. Seit seiner Fahrt aufs Podium bei der Spanien-Rundfahrt ist es endgültig vorbei mit der Rolle des Newcomers, den keiner kennt.
Steimle ist gewachsen. Nicht nur was seine Popularität betrifft, sondern auch als Sportler. Die enorme Belastung einer dreiwöchigen Rundfahrt - seiner ersten überhaupt - wirkt wie ein Katalysator. Drei Wochen lang hat er dem Körper danach Ruhe gegönnt, das Rennrad keines Blickes gewürdigt. Das zahlt sich jetzt aus. „Wir trainieren erst seit einer Woche“, sagt der 24-Jährige, „aber es fühlt sich nicht so an. Mein Leistungsniveau ist ein ganz anderes als im letzten Jahr.“ Das motiviert, auch wenn er dabei selten Hilfe braucht, und es ist ein gutes Omen vor einer Saison, in der er zeigen will, dass nicht nur Talent in ihm steckt, sondern inzwischen auch genügend Reife, um ein Kandidat für Titel zu sein.
Einer rangiert in seiner persönlichen Skala ganz weit oben. Nationale Meisterschaften sind in der Regel nicht das, worauf gestandene Profis ihren Fokus legen. Eher etwas, das man im Vorbeigehen mitnimmt. Wenn man eine DM daheim vor der Haustür hat, die vertraute Bühne nutzen kann, um ins Rampenlicht zu fahren, ist das anders. Die Deutschen Meisterschaften Mitte Juni in Stuttgart hat sich Jannik Steimle dick im Kalender angestrichen. Für ihn ein Highlight, bei dem er hofft, dass es bis dahin wieder vor gewohnter Kulisse stattfinden und die ganze Region dem Radsport huldigen kann. Ein Rennen, das den Reiz aber nicht nur aus dem Heimbonus zieht. „Ich will in Stuttgart das Ticket lösen für die WM“, sagt er.
Zwei Monumente im April
Davor wartet harte Arbeit. Das erste Saisondrittel gehört dem, wofür ihn die Belgier unter ihre Fittiche genommen haben, weil sie in ihm den Mann für die Zukunft sehen: Die Frühjahrsklassiker, in diesem Jahr noch Opfer von Corona, sind 2021 fest eingeplant. Mit Gent-Welvegem, der Flandern-Rundfahrt und Paris-Roubaix steht Steimle gleich bei zwei der fünf Monumente im Radsport von Ende März bis Mitte April im Aufgebot von Quick Step. Von den Fahrern gefürchtet, von den Fans heiß geliebt. Der Ritt durch die „Hölle des Nordens“ steht für alles, was den Radsport ausmacht. Hier kann nur bestehen, wer Schmerzen wegstecken kann, wer Morast, Regen und Kälte liebt. Oder anders ausgedrückt: Wer weiß, wie er den Mann mit dem Hammer in Schach hält. Dass dies sein Terrain ist, hat Steimle schon bewiesen. Dennoch weiß er, dass es auf diesen Strecken selten Überraschungssieger gibt. „Wer auf den Pavés bestehen will, der muss hier jeden Stein kennen“, sagt Steimle voller Respekt. Für ihn heißt das: Erst einmal ankommen, beobachten und bereit sein, wenn sich irgendwann ein Türchen öffnen sollte.
Das gilt nicht nur fürs Frühjahr. Hinter seinem Rennprogramm im Sommer stehen noch etliche Fragezeichen. Tour und Giro kommen nach den Klassikern zu früh. Eventuell winkt im September erneut die Vuelta. Davor stehen etliche kleinere Rundfahrten an. Die einwöchige Dauphiné-Rundfahrt etwa, die Ende Mai für die Klassementfahrer traditionell als Generalprobe für die Tour de France genutzt wird. Vielleicht die richtige Vorbereitung auf die DM in Stuttgart. Dort hat Steimle mit dem Straßenrennen und dem Einzelzeitfahren gleich zwei heiße Eisen im Feuer.
Doch zunächst heißt es, Kraft tanken, an der Form arbeiten unter Spaniens Sonne. Gleißendes Licht, milde Temperaturen, unterwegs mal ein Stopp auf einen Café solo - das tut in Coronazeiten auch der Seele gut. Dass das Fleisch willig ist, genügt auch im Radsport nicht allein. Zumal dann, wenn tief darin noch unverheilte Wunden sind. Der Schleimbeutel am Ellbogen ist immer noch entzündet. Winzige Steinchen sind tief unter die Haut gedrungen und bereiten Schmerzen. Andenken an seinen ärgerlichen Sturz auf der vorletzten Etappe der Vuelta. Auch das ist Teil des Reifeprozesses als Profi.