Ausgerechnet beim schwäbischen Bundesliga-Heimwettkampf in Kirchheim mussten sich die Turnerinnen von Rekordmeister MTV Stuttgart mit deutlichem Rückstand hinter den Teams von der Sporthochschule Köln und Tittmoning-Chemnitz mit Rang drei begnügen. Ein triftiger Grund: Stuttgart musste auf seine besten Juniorinnen Helen Kevric und Marlene Gotthardt wegen eines gleichzeitigen Länderkampf-Einsatzes verzichten. Die MTV-Macher sind jedoch überzeugt, dass sich ihr Team vollbesetzt in den beiden letzten Wettkämpfen für das DM-Finale am 2. Dezember in Neu-Ulm qualifiziert.
Gefeierter Star in der am Samstag mit 800 Zuschauern gut besetzten Sporthalle Stadtmitte war Elisabeth Seitz. Sie begeisterte vor allem mit einem überragenden Auftritt an ihrem Spezialgerät, dem Stufenbarren, der mit der Tageshöchstnote aller Turnerinnen von 14,40 Punkten belohnt wurde. Da klatschten sich auch OB Pascal Bader und die am Vortag nach 31 Jahren zurückgetretene VfL-Vorsitzende Doris Imrich vor Begeisterung die Finger wund.
Die beiden Kirchheimer Riegen in der dritten Liga und in der Regionalliga gingen am Tag danach optimal vorbereitet ans Werk (Bericht folgt). Michaela Pohl, Trainerin beider Damenmannschaften: „Nach dem letzten Wettkampf haben wir versucht, im Training verschiedene Übungen zu stabilisieren. Neue Elemente für die zwei restlichen Wettkämpfe im Herbst werden wir nach einem trainingsfreien Tag einbauen.“
Michaela, die Strippenzieherin
Michaela Pohl ist Strippenzieherin und treibende Kraft der Turn-Abteilung. Sie war selbst Leistungssportlerin, hat mit 16 die Kampfrichterprüfung abgelegt und als Erste in Deutschland eine Riesenfelge geturnt. Im Verein wird sie tatkräftig unterstützt von ihrem Mann, der früher auch geturnt hat und nun sein Wissen den Jungs und Mädels weitergibt. Die Söhne Felix und Moritz sowie Tochter Pia sind alle mit dem Turnen groß geworden. Das gilt auch für Heiko Paul, der seit zwölf Jahren der Turnabteilung vorsteht. Seine Söhne Simon und Daniel haben jahrelang für den VfL in der 2. und 3. Liga geturnt.
Bis der Abteilungsleiter die zweitägige Turnschau mit 31 Mannschaften aus ganz Deutschland eröffnen konnte, waren tagelang viele „Heinzelmännchen“ gefragt. Nicht weniger als 110 Helfer bereiteten die Großveranstaltung vor oder waren an ihrem gelungenen Ablauf beteiligt. Bis auf die üblichen Kleinigkeiten klappte alles wie am Schnürchen. Volles Lob der beteiligten Mannschaften war dem Veranstalter sicher. Umso mehr, weil nach Corona nur die VfL-Turnabteilung kurzfristig bereit war, die aufwendige Veranstaltung auszurichten.
Interview mit Elisabeth Seitz
Vor zehn Jahren haben Sie schon einmal in Kirchheim einen Bundesliga-Wettkampf geturnt. Was hat sich in der Zwischenzeit für Sie geändert?
Elisabeth Seitz: Sehr viel. Damals bin ich noch für die TG Mannheim gestartet. Der Wechsel zum MTV Stuttgart war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte. Ich wurde herzlich aufgenommen, habe mich turnerisch verbessert und nach 2012 für zwei weitere Olympische Spiele qualifiziert.
Sie sind jetzt 29 Jahre alt, gefühlt schon ewig dabei. Wie alt fühlen Sie sich als Turnerin zwischen all den vielen „Küken“?
Seitz: Auf keinen Fall wie fast 30. Der Sport hält mich jung. Ich weiß aber, dass ich mein Alter respektieren muss und höre deshalb gut auf meinen Körper. Deshalb turne ich zum Teil besser als noch vor Jahren.
Was tun Sie konkret, um ihren Leistungsstand zu halten, beziehungsweise zu steigern?
Ich trainiere intelligenter als früher. Ich weiß, was mein Körper braucht, und überlege genau, wie und was ich trainieren muss.
Haben Sie beim Training freie Hand?
Ich spreche alles mit meinem Trainer ab. Ich erkläre ihm, wie ich mich fühle, und er sagt, was er denkt. So versuchen wir immer, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
Mit Ihrer Erfahrung und Ihrem Alter sind Sie so etwas wie die „Mutter der Kompanie“. Betrachten Sie sich als Vorbild?
Schon. Ich bin für alle Fragen offen und versuche, den Jüngeren so viel wie möglich mitzugeben. Dabei geht es weniger um Turntechniken, sondern mehr ums ganze Drumherum.
Wie sehr bedauern Sie, dass Turnen in der Fernseh-Berichterstattung nur eine untergeordnete Rolle spielt?
Das ist sehr schade. Wir brauchen die Präsenz im Fernsehen, um den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, wie schön unsere Sportart ist. Turnen ist der perfekte Start für jede Sportkarriere und ist bestens dafür geeignet, dass sich alle wieder mehr bewegen, Spaß am Sport haben und gesund bleiben.
Wenn „die Seitz“ mal nicht mehr turnt, wird es immer „den Seitz“ geben. Für alle Laien wie mich: Wie funktioniert der?
Ich drehe mich im Direktflug vom niedrigen zum oberen Holm nicht nur ein halbes, sondern ein ganzes Mal um die eigene Körperachse und habe beim Greifen die Hallendecke im Blick. Wenn es glückt, gibt es ordentlich Punkte oben drauf. ks
Zur Person
Elisabeth Seitz wurde am 4. November 1993 in Heidelberg geboren. Ihre Eltern sind Claudia und Klaus Seitz, ihre Brüder heißen Johannes und Gabriel. Das Abitur legte sie im Jahr 2013 am Ludwig-Frank-Gymnasium Mannheim ab. Ihre Trainer sind Marie-Luise Hindermann und Robert Mai.
Die erste Medaille auf internationalem Parkett holt sie 2011 als Vize-Europameisterin im Mehrkampf. Im selben Jahr wird ein Turnelement nach ihr benannt. Mit dem „Seitz“ am Stufenbarren wird sie in den internationalen Wertungsvorschriften, dem „Code de Pointage“, verewigt.
Rekord: Insgesamt 29-mal wird sie Deutsche Meisterin im Mehrkampf, am Stufenbarren, Boden und Balken. EM-Gold gibt es 2022 am Stufenbarren, EM-Silber 2011 im Mehrkampf, EM-Bronze mit dem Team 2022, am Stufenbarren 2017 und 2023, WM-Bronze 2018 am Stufenbarren. Sie kommt auf drei Olympiateilnahmen: 2012 wird sie in London Sechste am Stufenbarren, 2016 in Rio de Janeiro Vierte am Stufenbarren und Sechste mit dem Team, 2021 in Tokio Fünfte am Stufenbarren.
Powerfrau: Bundestrainerin Ulla Koch bezeichnet sie als „Wettkampfsau“. Das hört „Eli“ nicht gerne, trifft es aber ziemlich genau: Sie ist „Miss 100 Prozent“ und strahlt dabei neben ihrer Energie noch gute Laune aus. ks