Dietmar Weil hieß der Protagonist, der seinen Kirchheimer Mitspielern am letzten Mai-Samstag 1986 unerwartet und spät neues Leben einimpfte. Das in der 85. Spielminute erzielte Tor des fliegengewichtigen VfL-Linksaußens zum 2:1-Endstand im ersten Oberliga-Aufstiegsspiel gegen den südbadischen Verbandsliga-Vizemeister TuS Lörrach-Stetten verhinderte die psychologisch kontraproduktive Konstellation, bei den in 16 Saisonheimspielen unbesiegten TuS-Kickern im Rückspiel unbedingt gewinnen zu müssen – dazu noch im schon optisch gewöhnungsbedürftigen Lörracher Naturstadion ohne Sitzplätze. „Durch das 2:1-Siegtor lagen unsere Aufstiegschancen wieder bei 50:50“, sagt Helmut Groß (66) heute. Beim VfL-Trainer, zwei Jahre zuvor bereits mit seinem Heimatverein SC Geislingen via Relegation in die Oberliga aufgestiegen, wuchs die Zuversicht.
Kurioserweise wuchs die Hoffnung auch in Lörrach-Stetten nach dem 1:2 vor 3 000 Besuchern. Im Kirchheimer Stadion feierten die 250 mitgereisten TuS-Fans neben dem von VfL-Torjäger Roland Hirsch verschossenen Elfmeter (56.) vor allem das Endresultat – Letzteres war für sie wie ein Sieg und schien die sichere Eintrittskarte in die Oberliga. Auch Trainer Peter Sammarchi („Lörrach-Stetten ist Favorit“) war sich nach der hauchdünnen Auswärtsniederlage nahezu sicher: Kirchheim ist zu schwach für TuS, die Südbadens heimstärkste Amateurmannschaft ist.
Dass eingefleischte TuS-Anhänger das Fell des Bären schon vor dem ersten Schuss im Rückspiel am 7. Juni 1986 verteilten, belegen seinerzeitige Momentaufnahmen. In Lörrach machte sich über die Kirchheimer Aufstiegshoffnungen nicht nur eine freche Schwarzweiss-Karikatur lustig, sondern auch ein voluminösen Plakat an der Eingangstür zur TuS-Gaststätte. Auf der war ein Veranstaltungshinweis zu lesen: „Heute Abend große Aufstiegsfeier“ prangte dort in großen Lettern schon vor dem Spiel, gut zu sehen für jeden ankommenden Gäste-Spieler, Funktionär oder Fan. Eine Provokation. Es war ignorant und arrogant, wie TuS Lörrach-Stetten damals den Tross des Verbandsliga-Vizemeisters aus Württemberg begrüßte. „Unsportlich“ nannte es im Rückblick Helmut Groß.
Mag sein, dass die gedruckten TuS-Botschaften das Gros der VfL-Fußballer im Unterbewusstsein derart puschten, dass sie die letzten vier, fünf Prozent ihres Kampf- und Laufpotenzials schon aus Rachegelüsten mobilisierten. Nach heutiger Wahrnehmung geriet die VfL-Eigenmotivation in Lörrach-Stetten allerdings zum Selbstläufer. „Wer die ganze Saison auf solch ein Spiel hingearbeitet hatte, der war automatisch hoch motiviert, als der Anpfiff erfolgte“, blickt Dietmar Weil, inzwischen 49, zurück. Auch Kirchheims berüchtigter „Bomber“ hatte beim Anpfiff an jenem Samstag den Kopf ganz frei – und mit allem abgeschlossen, was fußballerisch vor dem finalen Aufstiegsspiel passiert war. Kein Gedanke mehr an die Psychotricks der Gastgeber oder seine Elfmeter-Niete im Hinspiel, die das Kirchheimer Oberliga-Aus hätte bedeuten können – Hirsch blieb vor dem wichtigsten VfL-Spiel aller Zeiten bis in die Haarspitzen konzen-triert. „Ich war voll auf das Match fixiert und weniger auf die Dinge, die damals drum herum passiert sind“, rekapituliert er nach reiflicher Überlegung. Die Ausblende-Taktik des damals 19-Jährigen ging auf: Hirsch, der später vom Hamburger SV als Vertragsamateur verpflichtet wurde, erzielte die Treffer zum 1:0 (43.) und 3:0 (90.) und wurde einmal mehr zum Kirchheimer Matchwinner. Außerdem traf noch Uwe Heth (89.) vor den 2 000 verblüfften Zuschauern, die geschätzt zu einem Viertel aus angereisten Kirchheimern bestanden.
Die VfL-Mannschaft, in der Anfangsformation Bieber – Lang, Stadler, Bucher, Köber – Forzano, Schurr, Eder, Weil – Hirsch, Heth angetreten, harmonierte in Lörrach glänzend und spielte ganz nach dem Geschmack des Trainers. „All unsere Vorsätze sind hundertprozentig aufgegangen“, befand Helmut Groß damals vor Ort, nach dem größten Erfolg in der Kirchheimer Fußballgeschichte. TuS-Antipode Sammarchi dagegen war nach dem 0:3-Heimfiasko restlos bedient. Zum Gratulieren kam er trotzdem in die VfL-Kabine. „Toi, toi, toi in der Oberliga“, wünschte er den VfL-Akteuren.
Derweil feierten die Kirchheimer Fans draußen ausgelassen – auch den Trainer. „Helmut Groß, wir danken Dir“, skandierten sie. Der Geislinger, der mit seinem zehn Monate zuvor nach Kirchheim importierten Spielsystem der ballorientierten Raumdeckung auf Anhieb maximalen VfL-Erfolg erzielte, genoss in der Teckstadt den Ruf eines Fußball-Gurus. Tatsächlich hatte Groß, der aktuell unter Sportdirektor Ralf Rangnick für RB Leipzig arbeitet, die praktizierten Spielsysteme der früheren Bundesliga-Trainer Pál Csernai und Ernst Happel um entscheidende Varianten ergänzt – heraus kam die ballorientierte Raumdeckung, mit der Groß‘ Geislinger 1984 den Hamburger SV im DFB-Pokal bezwangen (2:0). „Mit diesem neuen Spielsystem“, sagt Groß heute, „hatte der VfL seinerzeit einen klaren Wettbewerbsvorteil gegenüber den Gegnern.“ Zuvor hatte Groß beim VfL die jahrzehntelang praktizierte Manndeckung abgeschafft – bei TuS Lörrach-Stetten indes gab es das alte Spielsystem dagegen weiterhin. „Mein Gegenspieler Heizmann hat mich im Spiel damals gewissermaßen bis auf die Toilette verfolgt“, schmunzelt Roland Hirsch heute.
In Lörrach siegte seinerzeit das modernere Spielsystem. Es erlaubte, dass die VfL-Kicker schnell zur tonangebenden Mannschaft wurden – und sich schließlich in einen wahren Spielrausch spielten. Der Spielrausch endete nach 90 Klasse-Minuten, der Rausch kam. „Nach dem Sieg hat die Mannschaft fast die ganze Nacht durchgefeiert“, erinnert sich Dietmar Weil. VfL-Stadiongaststätte, Festzelt, Wachthaus, Disco – das waren nacheinander die Stationen, auf denen euphorische VfL-Spieler nach über vierstündiger Busrückfahrt („an Autobahnraststätten haben wir immer wieder angehalten“) den größten Erfolg ihrer meist jungen Karrieren begossen. Selbst die Kirchheimer Polizei ließ in der alkoholgeschwängerten VfL-Fußballnacht fünfe gerade sein. Als der Mannschaftsbus einmal in die Kirchheimer Fußgängerzone einbog, blieb das ohne Folgen.
Was blieb, waren Erinnerungen an Kirchheims größten Fußball-Feiertag. „Der Oberliga-Aufstieg war der emotionalste Moment in meiner Fußball-Laufbahn“, schwärmt Roland Hirsch noch heute. Für Helmut Groß, kein Freund der Superlative, war es „ein echtes Trainerhighlight. Dass ich mit dem VfL Kirchheim gleich in meinem ersten Jahr in die Oberliga aufsteige, war so schließlich nicht geplant.“