Den inneren Schweinehund bezwingen, körperliche Grenzen neu definieren, einfach weitermachen, wo andere aufhören – Linn Kazmaier war noch ein Kind, als sie merkte, dass sie anders war. Weniger, was die Wahrnehmung von Licht und Farben angeht, damit war sie schließlich aufgewachsen. Ihr grenzenloser Drang nach Bewegung unterschied sie früh von vielen ihrer Altersgenossen. Jetzt ist sie ein Teenager und seit vergangenen Freitag Deutschlands jüngste Starterin bei den Paralympics in vier Wochen in Peking.
Es war die gewohnte Heimfahrt am Wochenende nach Oberlenningen. Im Zugabteil auf dem Rückweg von Freiburg, wo sie seit September im Sportinternat lebt, piepste für einen kurzen Moment das Handy. Die Textnachricht ihres Trainers fiel kürzer aus als sonst, und doch war danach nichts mehr wie vorher. Eine knappe Stunde später rauschte die Pressemeldung des Nationalen Paralympischen Komitees durchs Netz: Eine 15-Jährige aus Lenningen vertritt im März die deutschen Farben in Peking. Als jüngste Wintersportlerin aller Zeiten.
Überraschend? Ja. Völlig unverhofft? Auf keinen Fall. „Nach Lillehammer wusste ich, dass es nicht mehr ausgeschlossen war“, sagt Linn Kazmaier, deren Leben wegen einer Sehbehinderung mit Handicap begann. Lillehammer, das war vor knapp zwei Wochen ihr bis heute größter sportlicher Erfolg. Den Vertrauensvorschuss bei ihrer ersten WM-Nominierung als nordische Para-Athletin zahlte sie mit drei Top-Ten-Platzierungen zurück.
Jetzt also Peking. Es ist die Krönung einer Saison, in die sie viel investiert hat. Intensiveres Training, größere Umfänge, unzählige Tempoläufe, bis zu acht Einheiten pro Woche. Das Leben im Internat vereinfacht zwar vieles, trotzdem gilt das Jahr des Schulwechsels als eines, in dem junge Sportlerinnen und Sportler gemeinhin zurückstecken, sich neu orientieren
Ihre mentale Stärke in Verbindung mit jugendlicher Schnellkraft ist das, was sie auch in Peking nicht völlig chancenlos macht. „Sie ist sicher noch keine Medaillenkandidatin“, sagt Nachwuchs-Bundestrainer Michael Huhn. „Eine Top-Acht-Platzierung hat sie aber auf jeden Fall drin.“ Der 33-jährige Schwarzwälder begleitet seinen Schützling bereits seit fünf Jahren und hat schnell Linns großes Potenzial erkannt. „Sie hat früh mit Leistungssport begonnen, ist konditionell stark und kann an Grenzen gehen, wie nur wenige andere“, sagt er. Was fast noch wichtiger ist: „Sie ist für ihr Alter unglaublich zielstrebig und fokussiert.“
Der Freitag hat einiges verändert. Von einem Moment zum nächsten bestimmt ein einziges Thema Kalender und Tagesablauf der jungen Athletin. Diesen Montag war sie das vorerst letzte Mal daheim in Oberlenningen. Verwandte treffen, ausgiebig Zeit mit den Eltern verbringen. Am Sonntag beginnt das Trainingslager mit dem Kader in der Höhe von Livigno. Danach geht es für die letzten fünf Tage zurück nach Freiburg, hinein in die Blase. Ab da gilt: keine Kontakte mehr, Unterricht – wenn überhaupt – nur noch online. Am 25. Februar versammelt sich das Team Deutschland in Frankfurt zum Abflug nach Peking. Was dann kommt – ungewiss.
Familie bedeutet ihr viel, auch wenn sie sagt: „Heimweh war bei mir noch nie das große Thema.“ Wochenlang weg von zu Hause, in einer Umgebung, die man nur aus dem Fernsehen kennt. Aus Meldungen und Berichten, die auch die Kehrseite der Spiele beleuchten. Furcht hat sie keine. Ihre Neugierde und Vorfreude ist stärker als alles andere. Vor allem auf die Eröffnungsfeier im Stadion freut sie sich. „Das wird bestimmt cool.“ Was passiert, wenn Messenger-Dienste in einem autoritären Staat wie China Kontakte blockieren, wenn Quarantäne droht oder sich doch Heimweh einstellen sollte? Das sind Fragen, die vor allem die Eltern beschäftigen. Aus Furcht der Chinesen vor Corona ist die Einreise für Nicht-Sportler nicht erlaubt. Auch für Angehörige minderjähriger Athleten gibt es keine Ausnahme. „Sie irgendwo isoliert allein zu wissen“, wäre schlimm, sagt ihre Mutter. Gabi Kazmaier ist als Sonderpädagogin seit Jahren eine engagierte Förderin des Parasports. Als Volunteer war sie selbst schon mehrfach bei Paralympics dabei, zuletzt vor sechs Jahren in Rio. Herz und Ohren zu öffnen für andere Menschen in der Welt, das ist es, was sie ihrer Tochter als Erfahrung wünscht und von dem sie weiß, dass es nirgendwo schwerer möglich sein wird als in diesem Winter 2022 in Peking. Trotzdem sagt sie: „Wir wollen Linn dabei unterstützen, herauszufinden, was für ein Mensch sie sein will.“
Eine 15-Jährige bei den Paralympics – zumindest im Wintersport gab es das noch nie. Eine Situation, die das deutsche Lager vor neue Herausforderungen stellt. Eine besondere Rolle dabei fällt ihrem Begleitläufer zu. Florian Baumann ist nicht nur das „Auge“, das sie per Zuruf und Stockkontakt sicher durchs Gelände manövriert. Der 20-Jährige aus Balzholz, der in Freiburg lebt und als Biathlet ebenfalls das Sportinternat besucht hat, ist auch am Rande der Wettkämpfe eine der wichtigsten Bezugspersonen. Am 9. März feiert er seinen 21. Geburtstag. Es ist der Tag des Starts im Langlauf-Sprint. Für ein passendes Geschenk könnten sie gemeinsam sorgen.
Erstes Rennen am 5. März
Die Paralympics in Peking starten am Freitag, 4. März, mit der Eröffnungsfeier – zwölf Tage nach Beendigung der olympischen Winterspiele an selber Stelle.
Für Linn Kazmaier und das nordische Team beginnen die Wettkämpfe schon einen Tag später, am Samstag, 5. März, mit dem Biathlonsprint. Am Mittwoch, 9. März, ist sie im Langlaufsprint am Start. Erst danach wird sich entscheiden, wer im abschließenden Rennen in der Langlauf-Staffel am Sonntag, 13. März – dem Schlusstag der Spiele – in die Loipe gehen wird.
Rückreise aller deutscher Athleten ist am Dienstag, 15. März. Der Deutsche Behindertensportverband ist mit 18 Athletinnen und Athleten sowie sechs Guides in vier Sportarten bei den Spielen in China vertreten.
Bei den letzten Winter-Paralympics 2018 im südkoreanischen Pyeongchang belegte die deutsche Mannschaft Platz fünf mit insgesamt 19 Medaillen, darunter siebenmal Gold. bk