Er habe aufgehört, sich über die Leistung von Mannschaften zu ärgern, die er nicht selbst verantworte, sagt Igor Perovic. So gänzlich kalt dürfte ihn dieser 6. September trotzdem nicht gelassen haben. Die Achtefinal-Niederlage des haushohen Favoriten Serbien gegen Gastgeber Finnland bei der Basketball-EM wird genauso in die Geschichte eingehen, wie der deutsche Titel. Oder die Szene, als der 18-jährige Mikka Muurinen die Frechheit besaß, über das 2,11 Meter hohe Haupt von Serbiens NBA-Superstar Nikola Jokic hinweg den Ball von Downtown durch die Reuse zu zirkeln.
Wenn man wie Perovic sein Geld als Zweitliga-Trainer in Kirchheim verdient, dann muss eine solche Szene Mut machen – egal wie tief der Stachel sitzt. Schließlich steckt eine Spur Finnland in jeder Mannschaft, und davon werden die Kirchheimer brauchen, um in der am Samstag beginnenden Saison einen Fuß in die Tür zu bekommen. „Wenn das Spiel beginnt, steht alles auf Null“, macht Kirchheims serbischer Coach eine einfache Rechnung auf. Von da an heißt es: Finde die Schwachstellen und nutze sie.
Wohl kaum ein Klub hat in der 18-jährigen Geschichte der Pro A die Außenseiterrolle häufiger besetzt, und keine Mannschaft hat sich auf lange Sicht erfolgreicher darin behauptet als die Knights. Doch diesmal gilt: Nie war eine Kirchheimer Zweitliga-Mannschaft jünger und selten war sie schwerer einzuschätzen als vor dieser Saison. Wenn für die Ritter am Samstag um 19 Uhr in der Göppinger EWS-Arena der Ernstfall beginnt, dann wartet mit Gießen ein Gegner, der aufsteigen will und das zumindest auf dem Papier auch kann. Frenki Ignjatovics Mannschaft ist eingespielt, tief besetzt, spielerisch reif und mit allen Wassern gewaschen. In anderen Worten: Sie verkörpert all das, was den Kirchheimern im Moment fehlt.
Nach einer über weite Strecken herausragenden Saison, in der selbst 20 Saisonsiege nicht zum Einzug in die Play-offs reichten, liegt diesmal die Latte bei der Einstiegshöhe tief: „Unser erstes Ziel heißt überleben“, sagt der Trainer. „Wenn man immer wieder bei Null beginnt, dann ist der Risikofaktor naturgemäß groß“, meint Knights-Manager Chris Schmidt. Sieben neue Namen stehen auf der Liste, bis auf den verletzten Ex-Dresdner Lukas Zerner und Last-Minute-Transfer Nico Bretzel keiner mit Deutschland-Erfahrung. Kirchheim übt sich wie immer im Spagat – im Rahmen seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten. „Das hat jahrelang gut funktioniert“, meint Schmidt. „Die Garantie, dass das immer so ist, haben wir nicht“.
Die Liste Kirchheimer Spieler, die sich als Glücksgriff erwiesen und in der Pro A ganz nebenbei Maßstäbe setzten, kann sich sehen lassen. Diesmal soll ein 23-jähriger Rookie vom College und ein 22-jähriges Talent, das letzten Winter aus Braunschweig kam und in der Rückrunde durchschnittlich 15 Minuten Einsatzzeit verbuchte, das Kirchheimer Spiel lenken. Ein kühler Stratege wie Braden Norris, der nach seinem Abschied aus Kirchheim als Teil eines Trainerteams in die NBA wechselt und damit einen gewaltigen Karrieresprung hinlegt, fehlt.
Ob Phillip Russell und Gian Aydinoglu das Leadertrikot passt, ist eine ebenso spannende Frage wie die nach dem nächsten Entwicklungsschritt. Glaubt man Perovic, muss den fast jeder im Team gehen, weil es sonst eng werden könnte. Zu denen, die erkennbar den Unterschied machen, zählt neben den beiden Shooting-Guards Tyrel Morgan und Lucas Mayer auch der Mann mit Erfahrung in BBL und Euroleague. Der Ulmer Nico Bretzel ist nicht nur wegen seiner 120 Kilo bei 2,12 Meter Körperlänge der Stabilitätsanker unterm Korb und mit 26 Jahren bereits der Senior – das sagt einiges. Bretzel hat nur einen Halbjahresvertrag. Ob mehr daraus wird, hängt von seiner Leistung und entsprechenden Angeboten ab, die daraus folgen könnten. Klar ist: Wird Lukas Zerner, der an einer hartnäckigen Schambeinentzündung laboriert und derzeit in München seine Reha absolviert, nicht bis zur Rückrunde fit, brauchen die Knights Ersatz, falls Bretzel keine Option mehr sein sollte. Die Chance, dass Zerner, der noch kein Spiel für Kirchheim bestritten hat, in dieser Saison eine Rolle spielen wird, taxiert Perovic mit „Fifty-Fifty“.
Der Herbst verspricht heiß zu werden. Chris Schmidt macht kein Hehl daraus, dass ihm ein sanfterer Saisoneinstieg lieber gewesen wäre. Die Mannschaft braucht Zeit und Erfolgserlebnisse, um zusammenzuwachsen. Beides dürfte schwierig werden. Mit Gießen, Crailsheim und Göttingen warten an den ersten vier Spieltagen drei Topanwärter auf den Titel. Da werden unweigerlich Erinnerungen wach an den Saisonstart vor drei Jahren. Auch da fiel der Startschuss in der EWS-Arena und der Gegner hieß Tübingen. Die 86:98-Niederlage vor mehr als 4000 Zuschauern wirkte noch Wochen nach. Entsprechend früh könnte sich auch diesmal zeigen, wie Einzelne imstande sind, mit Nackenschlägen umgehen. Entsprechend früh könnte sich dann auch die Frage nach Alternativen stellen.