Lokalsport
Wenn Sascha in seinem Element ist

Angebot Bei den SF Dettingen haben viele Geflüchtete aus der Ukraine eine sportliche Heimat gefunden. Das Kickbox-Training in der Schlossberghalle leitet sogar ein diplomierter Coach aus dem Kriegsland. Von Peter Eidemüller

In der Ukraine hat er Kickboxer auf internationale Wettkämpfe vorbereitet, jetzt trainiert Sascha Kampfsportler in Dettingen. Foto: Markus Brändli

Die Stimme ruhig, der Blick freundlich, die Arme hinter dem Rücken verschränkt – wenn Sascha von seiner Heimat spricht, verrät sein Äußeres nichts von dem, was er erlebt hat. Aber Sascha hat viel erlebt: den Krieg in der Ukraine. Der 32-Jährige war beim Militär, ehe er schwer verwundet wurde und mehrere Monate im Krankenhaus lag. Für den Dienst an der Waffe traumatisiert, hat er das Land verlassen dürfen. Mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern ist er bei Privatleuten in Owen untergekommen. „Die Hilfsbereitschaft der Menschen hier ist toll“, sagt er mit leuchtenden Augen, während um ihn herum die Fäuste fliegen.

In der Schlossberghalle in Dettingen ist Sascha einmal Mal pro Woche und macht das, was er als Balsam für die Seele beschreibt: Der bullige Mann mit der Glatze und dem Vollbart ist diplomierter Kickbox-Trainer. Vor dem Krieg hat er ukrainische Sportler auf nationale unter internationale Wettbewerbe vorbereitet, jetzt kümmert er sich mehr als 2000 Kilometer entfernt um kampfsportbegeisterte Mitglieder der SF Dettingen. „Da bin ich in meinem Element“, sagt er mit einem Lächeln auf Russisch.

Natascha Wasmann nickt und übersetzt, was Sascha von „seiner“ Sportart erzählt, die ihm tagtäglich helfe, das in der Heimat Erlebte zu verarbeiten. „Er hat mir nach und nach seine Geschichte erzählt“, sagt Wasmann, die Sascha im ukrainischen Treff im evangelischen Gemeindehaus in Dettingen kennengelernt hat. Dort ist die 41-Jährige ebenso ehrenamtlich tätig wie als Geschäftsstellenleiterin der SFD, als Kursleiterin und im AK Asyl – Natascha Wasmann ist die personifizierte Integrationshilfe der Schlossberggemeinde, zumal sie als gebürtige Kasachin problemlos mit den Geflüchteten aus der Ukraine kommunizieren kann. „Es ist wichtig, den Menschen Angebote zu machen und eine Perspektive zu bieten“, sagt sie, die seit 30 Jahren in Deutschland lebt und für viele gestrandete Ukrainer erste Ansprechpartnerin ist.

So wie für Paul. Der 15-Jährige lebt mit seiner Mutter in einem der Container, die die Gemeinde neben dem Hallenbad aufgestellt hat. Außer Homeschooling via PC von morgens bis abends hatte der Teen­ager kaum Kontakte, von Bewegung ganz zu schweigen. „Irgendwann habe ich ihn einfach zum Kickbox-Training mitgenommen“, berichtet Natascha Wasmann. „Am Anfang war er ganz verschüchtert, ging gebeugt und schaute immer auf den Boden. Durch den Sport hat er sich total gewandelt.“ Wie zum Beweis tänzelt Paul lachend und schwitzend um seinen Trainingspartner herum und landet auf dessen Kommando Kicks im Schlagpolster.

Gekommen, um zu bleiben

Ein paar Meter weiter beharken sich Violetta und Diana. Die beiden 15 und 21 Jahre alten Schwes­tern stammen aus Mariupol – was sie dort erlebt haben, wollen sie für sich behalten. Heimweh nach der völlig zerstörten Stadt am Asowschen Meer haben sie nicht. „Was sollen wir dort, es ist doch alles kaputt“, zucken sie mit den Schultern. Genau wie Sascha haben sie sich eingelebt, fühlen sich wohl und wollen gerne bleiben. „In den nächsten Jahren“, glaubt Sascha, „wird es in der Ukraine kein geordnetes Leben geben.“ Bevor der Krieg nicht vorbei ist, sei eine Rückkehr für ihn und seine Familie kein Thema. Gerne würde er sich hier etwas aufbauen, gerne noch mehr als Trainer arbeiten. Nicht nur, weil es ablenkt: „An die Grenzen gehen, den Willen stärken und selbstbewusst sein, all das gibt mir das Kickboxen“, sagt er – mit ruhiger Stimme, freundlichem Blick und den Händen mittlerweile vor dem Körper gefaltet.

Ein sportliches Zuhause für Heimatlose
In der Schlössleschule wird getanzt. Foto: Markus Brändli

Integration durch Sport – bei den SF Dettingen längst nicht erst Thema, seit als Folge des Ukraine-Kriegs Geflüchtete in die Schlossberggemeinde gekommen sind. Der breit aufgestellte Verein bietet seit jeher Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, ein Zuhause.

So wie in der Schlössleschule, in der Birte Cleve jeden Dienstag Frauen und Mädchen zum gemeinsamen Tanzen bittet. Die rund 20-köpfige Truppe, in der neben Deutschen, Türkinnen und Iranerinnen auch Ukrainerinnen mitmachen, trifft sich seit Anfang Februar einmal die Woche. Im Rahmen der weltweiten Initiative „One Billion rising“ (OBR) gegen Gewalt an Frauen und Mädchen war die Gruppe auf Einladung der Frauenliste Kirchheim beim lokalen OBR-Event am Postplatz vertreten. „Das hat so viel Spaß gemacht, dass wir uns seitdem jede Woche treffen“, strahlt Birte Cleve.

Als Glücksfall erweist sich dabei, dass die Gemeinde den SFD die seit vergangenem Jahr leer stehende Schlössleschule nicht nur zu Übungszwecken überlässt. „Auch die Geschäftsstelle ist hier untergebracht“, freut sich der Vereinsvorsitzende Rainer Braun, der die Sportfreunde nach den Herausforderungen der Corona-Jahre wieder auf einem guten Weg sieht. „Die Mitgliederzahlen haben sich stabilisiert“, sagt er – immerhin ist fast jede(r) Fünfte in der Schlossberggemeinde Mitglied bei den SFD. Das Geheimnis des Erfolgs sieht Braun vor allem im Trainerteam und dessen außergewöhnlichem ehrenamtlichen Einsatz. „In vielen Abteilungen und Gruppen haben wir mehrere Personen, sodass Ausfälle gut kompensiert werden können“, sagt der Vereinsvorsitzende.

Beispiel Karate: Die als „Tecktigers“ firmierende Abteilung erfreut sich eines regen Zulaufs – auch viele Ukrainer, die in den Containern unterhalb des Guckenrains leben, kommen gerne in die benachbarte Schlossberghalle (siehe obiger Artikel). Um der Nachfrage Herr zu werden, war es für das Team um Abteilungsleiter Kevin Beckers selbstverständlich, Übungsleiter aus den eigenen Reihen zu rekrutieren. „Ich mache selbst schon lange Karate, da war für mich klar, dass ich etwas zurückgebe und als Trainer aktiv werde“, sagt Patrick Münster, der den Nachwuchs betreut – unabhängig davon, ob dieser deutsch sprechen kann. „Sport kann da unheimlich viel verbinden“, sagt Münster, der es wissen muss: Als Schulsozialarbeiter kennt er das Integrationspotenzial, das im Sport schlummert – nicht nur in Dettingen. Peter Eidemüller