Die Gemeinde Neidlingen unterm Reußenstein ist klein, aber ganz groß im Sport. Ob die alpine Skirennläuferin Daniela Ambacher, die einst bei einer DM sogar schneller war als Hilde Gerg, oder die ehemalige Inline-Weltmeisterin Ann-Katrin Stolz. Ob die deutsche Triathlon-Meisterin Karoline Brüstle oder Junioren-Weltmeister Max Braun mit dem Luftgewehr. Ob die Fußballer des TV, die sich seit Jahren in der Bezirksliga prächtig schlagen – alle und noch viel mehr haben den Ruf eines der in Relation zur Einwohnerzahl (1800) erfolgreichsten Sport-Standorte im Ländle begründet.
Jetzt ist ein weiterer Star im Mini-Mekka des Sports gelandet. Auf der Flucht vor dem Krieg in seiner Heimat Ukraine verschlug es den Weltklasse-Schützen Sergey Kudrya (40) nach Neidlingen. Überglücklich konnte er dort seine Frau Kateryna (37) und den zehnjährigen Sohn Denys in die Arme schließen. Sie waren bereits im April unter Führung einer ukrainischen Landsfrau, die in Deutschland lebt, in der schwäbischen Kirschblüten-Gemeinde gelandet. Die wieder vereinte Familie samt Schoßhündchen „Donatella“ lebt dort in einer Wohnung, die eine Privatperson zur Verfügung gestellt hat. Der Junge geht inzwischen in Kirchheim zur Schule.
Familie weit verstreut
Die Eltern, Verwandten und Freunde der Familie sind weit verstreut. Sergeys gehbehinderte Mutter und die Schwester hat es nach Italien verschlagen. Der Vater hält zu Hause im russisch besetzten Gebiet die Stellung, ist telefonisch aber zurzeit nicht zu erreichen. „Natürlich wollen wir zurück in unsere Heimat, wenn der Krieg beendet ist“, betont Kudrya. Aber das kann noch lange dauern.
Aktuell ist der Familienvater auf Jobsuche, die sich ohne deutsche Sprachkenntnisse und „normale“ Berufsausbildung schwierig gestaltet. Zu Hause war er professioneller Sportschütze und mehr als 20 Jahre Trainer an einer Sportschule. „Ich kann aber auch Autos reparieren. Oder eine ganz andere Arbeit verrichten“, versichert er und fügt hinzu. „Auf jeden Fall werde ich jetzt erst mal intensiv Deutsch lernen.“ Bisher beherrscht er nur Ukrainisch und Russisch. „Die beiden Sprachen sind eng verwandt.“
Waffen von Russen kassiert
Trotz der aufregenden Umstände in jüngster Zeit hat Schütze Sergey seine ruhige, zielsichere Hand behalten. Im Training auf dem Stand des Schützenvereins Neidlingen trifft er regelmäßig ins Schwarze. Die Pistole dafür hat ihm Waffenhersteller Walther aus Ulm leihweise zur Verfügung gestellt. Seine eigenen Waffen haben die Russen samt Munition einkassiert. Geblieben sind ihm lediglich die Medaillen und Urkunden, die zu Hause im Heimatort Kherson in einer Kiste aufbewahrt sind.
Auszeichnungen für seine vielen Siege im In- und Ausland hat er reichlich. Der immer noch durchtrainierte Rechtshänder war Mannschafts-Weltmeister mit der Ukraine, holte je einmal WM-Silber und WM-Bronze im Einzel mit der Luftpistole, dazu Bronze mit der Freien Pistole über 50 Meter. Seine persönliche Bestleistung mit der Luftpistole steht wie der 32 Jahre alte bundesdeutsche Rekord von Uwe Pottek bei 592 von 600 möglichen Ringen, mit der Freien bei 575 Ringen. Zum Vergleich: Der Weltrekord steht bei 583. Seine ganz großen Erfolge liegen ein Jahrzehnt zurück, weil er sich in jüngerer Zeit mehr auf seinen Job als Ausbilder und Trainer konzentriert hatte. Vor den ersten russischen Angriffen bereitete er noch den Schützen-Nachwuchs der Ukraine auf die Junioren-WM in Lwow vor, die dann ausfallen musste.
Verstärkung für den TSV Ötlingen?
Wie es sportlich für den Geflüchteten in der neuen Heimat weitergeht, steht in den Sternen. Gerne würde Sergey Kudrya seine Gastgeber in der Landesliga verstärken – geht nicht. Die Neidlinger schießen mit dem Gewehr, Kudrya ist Pistolenschütze. Naheliegend wären Einsätze für den TSV Ötlingen in der 2. Bundesliga. Geht auch nicht, weil er für den laufenden Wettbewerb nicht nachgemeldet werden kann. Frühere Angebote diverser Vereine für Gasteinsätze in der Bundesliga musste er regelmäßig ausschlagen, weil ihm der ukrainische Verband die Freigabe verweigerte.
Bleibt die Hoffnung auf die kommende Saison. Oder, noch besser: auf das Ende der Kriegs in der Ukraine und die Rückkehr in die Heimat. ks