Die Augen im Radsport sind auf Nizza gerichtet, wo heute die 107. Auflage der Tour de France beginnt. Kräftezehrend und turbulent war die Woche für Jannik Steimle auch ohne das größte Radsport-Ereignis der Welt. Beim dritten Platz seines Teamkollegen Florian Sénéchal am Dienstag verrichtete der Nachwuchsprofi aus Weilheim kraftraubende Nachführarbeit im Team Quickstep. Bei den Bretagne Classics über 278 Kilometer bei Plouay an der Atlantikküste kämpften die Fahrer die ersten vier Stunden mit strömendem Regen. Bereits tags darauf stand der 24-Jährige an selber Stelle zum ersten Mal als Teil einer deutschen Mannschaft bei der Straßen-EM am Start. Von seiner Nominierung hatte erst eine Woche vor dem Start erfahren.
Sieben für einen - die Mission Gold der deutschen Equipe mit Topsprinter Pascal Ackermann war am Mittwoch allerdings bereits nach etwas mehr als der Hälfte des Rennens beendet: Der deutsche Sprintzug nach einem Massensturz am Boden, Steimle blieb zwar im Sattel und war am Ende zweitbester Deutscher, doch Ackermann war im Zielsprint beim Sieg des Italieners Giacomo Nizzolo auf sich alleine gestellt. Trotz guter Ausgangsposition musste sich der Pfälzer am Ende mit Bronze begnügen. Steimle kämpfte nach einem riskanten Bremsmanöver um den Anschluss, doch „nach dem harten Rennen am Vortag gaben die Beine nicht mehr her“, sagt er.
Auch ohne EM-Gold für die Mannschaft war für den Weilheimer sein Debüt im Trikot des BDR eine von zahllosen Premieren in diesem Jahr. Seinem ersten regulären Profijahr im Trikot von Quickstep, das wegen Corona erst jetzt ins Rollen kommt. Vorgestern war kurz Zeit zum Erholen im Teamhotel in Belgien. Während es für die Quickstep-Stars um Julian Alaphilippe ab heute in Nizza um Tour-Erfolge geht, startet Steimle mit Teamkollegen beim belgischen Eintagesrennen Druivenkoers Overijse. Danach geht es heim nach Weilheim. Zwei Wochen Rennpause bevor mit der Slowakei-Rundfahrt am 16. September die Generalprobe für den Saisonhöhepunkt beginnt. Die Vuelta in Spanien vom 20. Oktober bis zum 8. November ist die erste ganz große Nummer im Sportlerleben von Jannik Steimle. Seine erste dreiwöchige Rundfahrt, die mit ihren schweren Bergprüfungen auch gestandene Profis das Fürchten lehrt. Steimle sagt: „Der Respekt ist schon groß, aber die Freude überwiegt ganz klar.“
Horrorstürze im August
Bis dahin heißt es, gesund bleiben. Für ihn und für das gesamte Team, das zuletzt wie kein anderes dramatische Stunden erlebte. Erst die Horrorszene mit Fabio Jacobsen, der nach einem Crash im Zielsprint bei der Polen-Rundfahrt tagelang im Koma lag. Bilder, die auch Jannik Steimle nicht aus dem Kopf gingen. Am Tag nach dem Unfall kehrte er im Mannschaftstraining um und stieg vom Rad. „Ich war total am Boden“, gesteht er. Eine Woche später kam Teamkollege Remco Evenepoel bei einem Zehn-Meter-Sturz von einer Brücke wie durch ein Wunder mit einem Beckenbruch davon.
Ereignisse, die nicht nur Radprofis nachdenklich machen und die zeigen: Es ist kein Jahr wie jedes andere. Nach dem Lockdown drängen sich alle wichtigen Renntermine in der zweiten Jahreshälfte. Viele Fahrer kämpfen um neue Verträge. Dafür nimmt manch einer jedes Risiko in Kauf. „Alle sind heiß. Das Tempo im Feld ist höher, es geht hektischer und nervöser zu“, meint Jannik Steimle, der weiß, dass er das im Rennen ausblenden muss. „Wenn du am Start stehst, muss der Kopf frei sein, sonst geht es nicht.“