Während sich allerorten ein Corona-Schlendrian breitmacht, als gäbe es keine Inzidenzzahlenhöhe, die vor kurzer Zeit noch in den Lockdown geführt hätte, bleibt einer unbeirrt in Alarmstellung: Karl Lauterbach. Mit Zeitungsanzeigen unter dem Titel „Fakten Booster“ trommelt das Bundesgesundheitsministerium für die zweite Auffrischimpfung. Dabei verschieben die Fakten des gedruckten „Boosters“ – durchaus gemäß der Entwicklung von Krankheit und Forschung – den Angstfokus vom Todesrisiko zu den Langzeitfolgen: „Mittlerweile wissen wir, dass eine Corona-Infektion zu Hirnschäden und schlimmstenfalls zu Demenz führen kann“, wird Lauterbach zitiert.
Im Themenpapier „Demenzrisiko bei SARS-CoV-2“, herausgegeben von der Geschäftsstelle Nationale Demenzstrategie, heißt es indes, es gebe aktuell „keine Daten über das mit einer SARS-CoV-2-Infektion assoziierte Demenzrisiko“; dazu allerdings der Hinweis: „Infektionserkrankungen gehen generell mit einem erhöhten Risiko einer späteren Demenzerkrankung einher.“ Und: Das Themenpapier führt Studien an, die neuronale Schädigungen durch Corona belegen – mit akuten, aber auch langfristigen, teils nach Monaten wiederkehrenden Symptomen wie Müdigkeit, Erschöpfung, Depressivität, Gedächtnislücken, Störungen des Geschmacks- und des Geruchssinns.
Letztlich ist das Wissen über Covid-Langzeitfolgen, über Häufigkeit und Risikogruppen, Symptomkomplexe und Verläufe, bleibende oder vorübergehende Beeinträchtigungen und Behandlungsmöglichkeiten bisher sehr begrenzt, teilt das Gesundheitsamt des Landkreises Esslingen mit. Als gesichert gilt, dass das Risiko von Langzeitfolgen mit der Schwere der Erkrankung steigt – besonders bei Männern über 60. Langzeitfolgen nach milden Verläufen treten hingegen häufiger bei Frauen unter 60 auf.
„In der Praxis sind solche Fälle noch selten“, sagt Wolfgang Bosch, niedergelassener Allgemeinmediziner in Ostfildern und zweiter Vorsitzender der Kreisärzteschaft Esslingen. Er geht davon aus, dass weitere Forschung mehr Klarheit schaffen werden, auch über das Risiko von kognitiven Störungen nach Covid. „Häufig haben wir dagegen Long-Covid-Symptome wie Erschöpfung auch bei jüngeren Patienten, die zum Beispiel noch Monate nach einer Infektion klagen, sie könnten nicht mehr wie früher joggen.“
Für Panikmache hält Bosch den Alarmismus des Bundesgesundheitsministers keineswegs: „Es ist die Aufgabe von Politikern, ein Signal zu setzen: Wir müssen auf der Hut sein, Covid ist nicht vorbei.“ Impfen ist für Bosch nach wie vor das A und O der Corona-Bekämpfung. Das sei weitgehender Konsens in der Kreisärzteschaft. Impfen sei die einzige Möglichkeit, die Pandemie zur Endemie herabzustufen, mit der man leben müsse; die einzige Möglichkeit, „dem Virus den Boden der Verbreitung zu entziehen und damit das Risiko der Entstehung einer neuen, gefährlichen Mutante zu verringern“. Nicht zuletzt, so auch das Gesundheitsamt, verringert Impfen mit dem Risiko eines schweren Verlaufs zugleich jenes von Long Covid.
Welcher Impfstoff?
Die Frage ist nur: Impfen mit welchen Stoffen? „Das ist im Moment noch die Krux“, räumt Bosch ein. Ab 5. September werden angepasste Impfstoffe ausgeliefert, die „gegen die Omikron-Altvariante und die BA1-Mutation wirksam sind“. Für Oktober ist bereits der nächste Impfstoff angekündigt, angepasst an die BA.4- und BA.5-Mutationen, die die Sommerwelle dominierten. Also warten oder trotzdem gleich impfen? „Über 70-Jährige und Risikopatienten sollten sich sofort boostern lassen“, rät der Allgemeinmediziner, „alle anderen noch etwas warten.“ Im Übrigen hält sich die Kreisärzteschaft an die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko). Sie rät allen über 60 zur zweiten Auffrischimpfung, außerdem Menschen ab fünf Jahren mit dem Risiko schwerer Covid-Verläufe aufgrund von Vorerkrankungen, Bewohnern von Pflegeeinrichtungen sowie dem Personal in Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Pflege.
Besondere Aktionen sind nicht geplant, für eine erneute Impfwelle sieht man sich aber gerüstet. Das Gesundheitsamt weist auf das Mobile Impfteam im Impfbus hin. Wesentliche Säule der Impfkampagne sei aber die niedergelassene Ärzteschaft. Kommt sie mit einer herbstlich erhöhten Nachfrage zurecht? „Ich denke schon“, sagt Bosch. „Wir können das parallel zur Influenza-Impfung machen.“
Die Corona-Lage im Landkreis Esslingen
Sommerwelle Den Höhepunkt erreichte die Corona-Sommerwelle im Landkreis Esslingen am 19. Juli mit einer Inzidenz von 935. Seither flaut sie ab, derzeit liegt die Inzidenz um 140. Allerdings weist das Gesundheitsamt des Landkreises auf eine hohe Dunkelziffer hin, sodass lediglich Trends und Dynamik, nicht aber das Ausmaß des Infektionsgeschehens aus den Inzidenzzahlen abgelesen werden könnten.
Hospitalisierung Laut Gesundheitsamt des Kreises ist die Hospitalisierungsinzidenz (Zahl der ins Krankenhaus eingewiesenen Covid-Patienten unter den in den vergangenen sieben Tagen gemeldeten Fällen, bezogen auf 100 000 Menschen) rückläufig, ebenso die Zahl der Corona-Patienten auf Intensivstationen. Trotzdem belastet das Virus das Gesundheitswesen: durch zahlreiche Ausfälle beim Personal.
Impfung In den Impfbussen werden 60 bis 65 Prozent zum zweiten Mal geboostert. Weitere Daten zur aktuellen Impfquote im Landkreis gibt es nicht. Dem Gesundheitsamt zufolge bewegt sie sich im Landesrahmen: 5,9 Prozent der Baden-Württemberger haben eine zweite Auffrischimpfung (17,7 Prozent der über 60-Jährigen), 60,9 Prozent die erste, 74,5 Prozent die Grundimmunisierung. mez