Es wirkt wie die Flucht-Szene in einem Fernsehkrimi. Mitten in der Nacht wartet ein weißer Kleinbus mit laufendem Motor vor dem Einfamilienhaus am Rand von Kirchheim. Ein paar Sätze auf polnisch werden gewechselt. Die Frau im dunklen Veloursmantel packt hastig mehrere Taschen auf die Rückbank. Der Fahrer hat es eilig. Noch am Abend haben sie auf sie eingeredet, versucht, sie umzustimmen. Doch Olga S. will einfach nur weg. Heim zu ihrer Familie, weg aus einem Land, in dem sich die Krise zuspitzt, bevor Grenzen ganz und gar dicht sind. „Man kann niemand einen Vorwurf machen“, sagt Uta Kümmerle. „Viele der Frauen haben einfach Angst.“
Die Frau mit dem blonden schulterlangen Haar hat sich ein Leben lang sozial engagiert. Zwei Jahrzehnte lang hat sie in Bissingen die Nachbarschaftshilfe organisiert. Jetzt ist sie Regionalchefin von Care Work, einem der größten Vermittler von Pflegekräften in Süddeutschland. Mehr als hundert Beschäftigte hat sie unter Vertrag. Alle legal, alle in sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältinissen. Die große Mehrheit der meist weiblichen Kräfte stammt aus Polen oder Ungarn.
Seit die Krise Europa fest im Griff hat, seit Grenzen schließen, fehlt davon inzwischen mehr als ein Viertel, und es werden täglich mehr. Zwar dürfen Pendler mit festem Arbeitsvertrag in ein EU-Nachbarland nach wie vor einreisen, doch viele wollen nicht, oder der Verkehr an den Grenzen lässt eine geregelte Reise nicht mehr zu. Vor allem aus Ungarn gelangt zurzeit niemand mehr nach Deutschland, weil mit dem Transitland Österreich gleich zwei Grenzen mit stundenlangen Wartezeiten überwunden werden müssten. „Bei mir steht das Telefon nicht mehr still“, sagt Uta Kümmerle. „Ich habe zwei Dutzend Fälle in der Warteschleife, die dringend Hilfe bräuchten.“ Das Problem: Alternativen sind schwer zu finden. In Heimen gibt es kaum Kurzzeitpflegeplätze, stationäre Betten sind genauso rar. Selbst der Übergang hochbetagter oder Schwerstkranker ins stationäre Hospiz gestaltet sich schwierig. „Zehn bis zwanzig Leute stehen bei uns fast immer auf der Warteliste für einen stationären Heimplatz“, sagt Marcel Koch, Heimleiter im Kirchheimer Henriettenstift.
Sozialstationen helfen aus
Bleiben nur die Sozialstationen, die zurzeit zwar ebenfalls am Limit arbeiten, aber noch keinen Notstand beklagen. „Wir haben im Moment zum Glück keine erkrankten Mitarbeiter“, sagt Michael Bihl, Pflegedienstleiter der Diakoniestation Teck, die mit ihren drei Stützpunkten in Kirchheim, Weilheim und Lenningen 657 Patienten häuslich betreut. Er sagt: „Wir können noch einiges auffangen, aber eben nicht zu Wunschzeiten.“ Soll heißen: In vielen Fällen kann Körperpflege statt frühmorgens erst später am Tag stattfinden. Das einzige, was ihn beunruhigt: Mundschutz und Desinfektionsmittel gehen langsam zur Neige. Von einer drohenden Katastrophe will bei der Diakonie trotzdem niemand reden. „Wir verbreiten keine Panik“, sagt Michael Bihl. „Die Stimmung im Haus und bei den Mitarbeitern ist sehr ruhig.“
Die Sozialstationen und ambulanten Pflegedienste können vieles abfedern. Ein Ersatz für eine 24-Stunden-Pflegekraft sind sie nicht. Zumal dann, wenn plötzlich über Nacht eine Lücke klafft. So wie bei Karin P., deren 85-jährige Mutter allein im Haus in Kirchheim lebt. Sie benötigt Rundum-Betreuung, vor allem nachts. Sie und ihr Bruder leben mit ihren Familien einige Kilometer entfernt. Ihr Mann ist selbst hilfsbedürftig und nach einem Arbeitsunfall berufsunfähig. Seit Olga S. das Land verlassen hat, ist nichts mehr, wie es war. Die Mutter versteht die Situation nicht, die Kinder sind mit der neuen Lage überfordert. „Mein Bruder überlegt jetzt, ob er sein Homeoffice nach Kirchheim verlegt und dort auch vorerst wohnt“, sagt Karin P. „Eine Dauerlösung ist das natürlich nicht.“ Was sie sagen will: Diese Gesellschaft hat ein Pflegeproblem. Die Corona-Krise ist nur das Licht, das darauf fällt.