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Überpünktlich

Die Bahn - was wird über sie geschimpft: zu dreckig, zu voll, zu unzuverlässig und vor allem zu spät. Einfach nicht kundenfreundlich. Vielfahrer könnten Bücher schreiben, so auch eine Seniorin aus Ötlingen, Inhaberin einer Bahncard 50, die regelmäßig Tochter und Enkel in Köln besucht. Mangels Alternativen, aber auch aus Überzeugung, nimmt die Dame Überraschungen auf der Strecke mit buddhistischer Gelassenheit hin. Dabei kann auch sie haarsträubende Anekdoten erzählen von stundenlangem Warten auf offener Strecke und nervigem Ersatzverkehr. Manche Info kommt vom Hörensagen und mag auch viel Bahnfahrerlatein beinhalten, das bei mangelndem Krisenmanagement schnell die Runde macht.

Eines hatte die rüstige Seniorin in all den Jahren noch nie erlebt: Überpünktlichkeit. Dazu kam‘s ausgerechnet am angekündigten Streiktag am Montag. Just auf diesen Termin hatte die Ötlingerin schon vor langer Zeit ihre Rückfahrt von Köln gelegt, wie sich‘s für einen schwäbischen Sparfuchs gehört, im IC Richtung Oberstdorf. Der bummelt nämlich durchs schöne Rheintal, braucht für die Strecke eine Stunde mehr als der ICE, ist aber auch spottbillig bei langfristiger Buchung: Abfahrt 11.17 Uhr am Kölner Hauptbahnhof, geplante Ankunft in Ötlingen 15.31 Uhr. Das alles für 22,50 Euro, natürlich mit Zugbindung.

Die Zugbindung jedoch wurde am Streiktag aufgehoben, jeder konnte mit jedem Zug fahren. Davon versprach sich die Bahn eine Entzerrung der erwarteten chaotischen Zustände. Die herrschten am Montagmorgen auch wirklich, aber vor allem auf den Straßen. Die bahnfahrende Dame überholte sich dagegen auf der Schiene quasi selbst: „60 Minuten Verspätung“ prangte zunächst am Display, als sie pünktlich gegen 11.17 Uhr am Bahnhof in Kölle eintraf. Auf die Minute fahrplangemäß startete jedoch dort ein ICE nach München um 11.55 Uhr. Mit an Bord des längst nicht vollen Zuges: die Seniorin und vergnügte Mitreisende. Dank großer Pünktlichkeit erreichte sie auch den S-Bahn-Anschluss in Stuttgart reibungslos und war so unterm Strich sogar eine halbe Stunde früher als geplant zu Hause. - Wenn das nicht (über)pünktlich ist! Irene Strifler