Fünfzig Jahre Lenningen – wer könnte mehr erzählen als Gerhard Schneider, der von Stunde Null bis 1999 Bürgermeister der neuen, teilortreichen Gemeinde war? Die Antwort ist denkbar einfach: seine Frau Hannelore. Es herrscht Harmonie im Hause Schneider in Oberlenningen. Von dort können die beiden einen weiten Teil des Orts überblicken. Gemeinsam erinnern sie sich an alte Zeiten, werfen sich während des Gesprächs die Bälle zu.
Recht schnell lernte Gerhard Schneider die ortstypischen Eigenheiten kennen. „Die Schopflocher sagen Daag – nicht Grüß Gott“, erzählt er. In diese Falle ist er prompt getappt, als er erstmals durch den Ort lief. Gern gesehen war er damals nicht. Wie die Unterlenninger und Gutenberger fürchteten die Schoplfocher, dass mit der Eingemeindung – und damit die Aufgabe der Selbständigkeit – im Ort nichts mehr vorwärtsgeht. „Das Gegenteil war der Fall – Oberlenningen musste lange zurückstehen“, sagt Gerhard Schneider, der ab dem 15. Februar 1966 Bürgermeister in Oberlenningen war – und seinen letzten Arbeitstag als Gesamtlenninger Schultes am 15. Mai 1999 hatte.
Oberlenningen musste lange zurückstehen.
Gerhard Schneider über die Folgen der Verwaltungsreform
Viel hat das Paar seither erlebt und kann dementsprechend die ein oder andere Episode erzählen. Beispielsweise als der Gemeinderat gegen eine aus katholischen Pfarrern bestehende Mannschaft antrat und ein Sportflieger über den Platz flog. „Vom Flieger wurde der Ball heruntergeworfen – und dann haben wir angefangen zu spielen“, erinnert sich der Ehrenbürger. Ein markantes Datum für die Katholiken im Lenninger Tal war der 16. Dezember 1967: Die neue Kirche Mariä Himmelfahrt in Oberlenningen wurde vom damaligen Bischof Carl Josef Leiprecht eingeweiht. „Dass der Bischof dabei war, das war etwas ganz Besonderes“, sagt Hannelore Schneider. Der spätere Pfarrer Herbert Meid war – vor dem oben genannten Fußballspiel – bei seinen Schäfchen etwas in Ungnade gefallen, nachdem er in kurzen Hosen als Schiedsrichter auf dem Fußballplatz zu sehen war. Sein Ansehen stieg jedoch wieder, als er regelmäßig Gast im Hause des Bürgermeisters war. „Pfarrer Meid war wie ich aus Esslingen und hat mittwochs Religion unterrichtet. Um 12.30 Uhr war die Schule aus, dann ist er gleich zum Mittagessen rübergekommen“, sagt Hannelore Schneider über die langjährige Freundschaft.
Viele Lenninger kennt sie aus ihrer Zeit als Flötenlehrerin. „Ich habe in Schopfloch und Gutenberg unterrichtet – fast alle sind durch meine Hände gegangen“, erzählt sie mit ihrem freundlichen Lachen. Als eines schönen Winter-Sonntags der Pfarrer große Schwierigkeiten hatte, wegen Schnee und Glatteis die Steige von Schopfloch hinunter nach Gutenberg zu meistern, wurde die Bürgermeistergattin kurzerhand zur Hilfspfarrerin und gestaltete den Gottesdienst. „Ich habe aus der Bibel vorgelesen, das erste Lied und dann weitere gesungen und mit den Flötenkindern vorgespielt, als fast am Ende des Gottesdiensts die Kirchentür aufging, und der Pfarrer hereinkam. Er hat das Vaterunser gesprochen und den Segen erteilt, dann war die Kirche aus“, erzählt sie. Außerdem war die rührige und herzliche Frau auch zwei Jahre als Zweitkraft im Kindergarten tätig. „Meine Frau ist mit dem halben Flecken per du“, sagt Gerhard Schneider anerkennend. Telefondienst hat Hannelore Schneider auch übernommen, auch die Leitung der Schule lief damals über das Rathaus. „Da kam es schon mal vor, dass einer mitten in der Nacht aus den USA angerufen hat, um seinem Bruder zum Geburtstag zu gratulieren“, erzählt sie.
Im Gespräch erinnert sich Gerhard Schneider an besondere Menschen, die seinen Weg gekreuzt haben. „Dr Gräder-Karle war ein Oberlenninger Original, der unter Pflegschaft stand, eine Kuh hatte und nie ohne seinen Blauschurz außer Haus ging – auch wenn er nach Stuttgart fuhr. Er ging auch gern auf Reisen, selbstverständlich im Blauschurz. Er dachte dabei sehr wohl an seine Kuh und hat ihr mehr als sonst ,einegeah’ mit der Aufforderung: Des muasch halt eidoila. Leider hat das die Kuh nicht verstanden und ihre üppige Mahlzeit sogleich gefressen. Irgendwann hatte sie Hunger und fing jämmerlich an zu schreien und der Nachbar hat sich ihrer erbarmt und gefüttert. Außerdem hat der Karle seinem Kriegskammrad in Neuffen persönlich und zu Fuß den Mist seiner Kuh überbracht – und er hat gern seinen Lieblingsspruch gebruddelt: ‘S Weddr isch nix, d’Leit sen nix ond d’Leit send wias Weddr.“
Geboren wurde Gerhard Schneider 1939 in Tuningen, in Trossingen ging er aufs Gymnasium. Sein Vater war Lehrer und Schulleiter. 1942 wurde Hannelore Schneider in Esslingen geboren, wo sie auch aufwuchs. „Zum ersten Mal gesehen habe ich sie bei einer Hochzeit, der Bräutigam war mein Schulkamerad“, verrät Gerhard Schneider. „Als wir als verlobtes Paar 1966 in Oberlenningen geheiratet haben, war der Gemeinderat bei der Hochzeit dabei“, sagt Hannelore Schneider und ihr Mann ergänzt verschmitzt: „Damals hat noch Ordnung geherrscht.“ Ihre beiden Kinder Ulrich und Susanne wuchsen in Oberlenningen auf.

30 Jahre, ab 1989, hat Hannelore Schneider den Senioren-Gemeinderat geleitet. „Wir hatten alle ein ganz nettes Verhältnis zueinander. Wir haben Ausflüge und Reisen unternommen: Rom, Paris, Budapest, Berlin“, zählt sie auf. Drei bis viermal im Jahr trafen sich die einstigen Kommunalpolitiker. Dann ging es in die nähere Umgebung, beispielsweise nach Urach oder Esslingen. „Kurz vor meinem 80. Geburtstag habe ich gesagt: Jetzt höre ich auf – alles hat seine Zeit“, blickt Hannelore Schneider zufrieden auf diese Zeit zurück.
Weit (nerven-)aufreibender war ihr acht Jahre währendes Engagement als Schöffin beim Oberlandesgericht in Stuttgart. Sie saß Mördern gegenüber und musste sich mit manch menschlichen Abgründen auseinandersetzen. „Ich bin immer um 6.30 Uhr in den Zug eingestiegen – damals war er noch pünktlich –, denn ich wollte nicht zu spät bei der Verhandlung erscheinen. Bei der Rückfahrt dachte ich immer: Gott sei Dank kann ich in meine heile Welt zurückkehren.“
Auch Gerhard Schneider musste einen Anblick aushalten, den er bis heute nicht vergisst. Es gab ein tragisches Busunglück. Damals wohnte das Ehepaar noch in der Nähe der Gemeindehalle. Dort hielt der Schulbus. „Es war an einem Samstag, es war wie immer ein Riesengeschrei, wenn ein paar Hundert ,Jonge’ auf der Straße warten, um nach Schopfloch oder Hochwang zu fahren. Auf einmal war es ruhig. Ich bin sofort hin.“ Zuvor hatte es ein Gedränge gegeben, ein Kind fiel hin und der Bus ist mit dem Vorderrad über seinen Kopf gefahren. „So einen Anblick will ich nie wieder sehen“, sagt er heute noch betroffen und seine Frau ergänzt: „So weiß habe ich meinen Mann davor und danach noch nie gesehen.“ Nach dem Unglück setzte die Diskussion ein, wo die Schulbusse halten können. Schließlich wurde der Busbahnhof am Bahnhof gebaut. „Gegen Ende meine Amtszeit haben wir dann auch den Bahnhof gekauft. Die Deutsche Bahn war ein schwieriger Verhandlungspartner. Auch wenn einem das Gebäude gehört, hat man es mit dem Eisenbahnbetriebsamt zu tun. Die Freigabe hat Jahre gebraucht, denn wir konnten ja keinen Bebauungsplan aufstellen. Auch mein Nachfolger, Michael Schlecht, hat damit noch weitere Jahre zu tun gehabt“, erinnert sich Gerhard Schneider.
Dann schlägt er ein andere Kapitel auf. „Das hört jetzt auf mit dem Leichenzug, wir brauchen eine Aussegnungshalle auf dem Oberlenninger Friedhof“ – diese Meinung war der Tatsache in den 1980er Jahren und der B 465 geschuldet. „In der Martinskirche war der Trauergottesdienst, dann mussten die Trauergäste über die Bundesstraße gehen, weshalb die Polizei den Verkehr anhalten musste. Die Lkw-Fahrer hielten sich nicht immer daran, es kam immer wieder zu sehr unschönen Szenen“, sagt der Altschultes und seine Frau erinnert daran, dass die Beerdigungen einst immer um 13 Uhr begonnen haben, wenn die Schicht in der Papierfabrik geendet hat. „Man hat sich damals danach gerichtet, alles war von Scheufelen bestimmt – und heute ist alles weg“, sagt sie wehmütig. Ihr Mann sagt: „Bei meinem Amtsantritt 1966 arbeiteten dort über 2000 Menschen.“
Zunächst auf wenig Zustimmung in der Bevölkerung stieß die Sanierung des Schlössle in Oberlenningen, die Gerhard Schneider sehr am Herzen lag. „Des alde Glomp sodd mr warm abbrechen – diesen Satz habe ich oft gehört, als die Gemeinde das Gebäude in einem äußerst schlechten Zustand von Scheufelen gekauft hat. Es gab viele Diskussionen, was man damit anfangen sollte. Als es fertig war, waren alle begeistert und heute sprechen alle von unserem Schlössle. Ich habe Ev Dörsam als Büchereileiterin eingestellt – und sie ist heute noch da, obwohl sie täglich von Tübingen herfährt“, freut er sich.
Mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Erwin Teufel ist er seit der gemeinsamen Ausbildung verbunden. „Wir waren Studienkollegen, er saß in der staatlichen Verwaltungsschule in Haigerloch eine Reihe vor mir“, erzählt Gerhard Schneider. Über Jahrzehnte gab es regelmäßige Treffen der einstigen Studenten, unter anderem auch in der Krone in Brucken.

Einen ganz besonderen Schatz hat das Ehepaar, insbesondere Hannelore Schneider, gerettet: viele historische Fotografien. Eine Auswahl davon war – mit Fotos weiterer Lenninger – in der Ausstellung „Ganz Lenningen in alten Ansichten“ im Oberlenninger Schlössle zu sehen. „Ich habe auf der Rathaus-Bühne in Oberlenningen viele Kartons mit Fotos darin entdeckt und immer mal wieder einen mit nach Hause gebracht, bevor sie jemand wegwirft“, erzählt Gerhard Schneider. Die mühsame Sortierarbeit übernahm seine Frau. „Die Fotos waren alle durcheinander und von überall in Lenningen. Ich habe jedes Bild in die Hand genommen, Häuflein und Berglein gemacht und musste vieles vor Ort nachschauen und abgleichen und die Leute fragen, denn zahlreiche Aufnahmen sind vor unserer Zeit in Oberlenningen entstanden“, erinnert sich Hannelore Schneider. Sie hat die Bilder chronologisch und nach Ortschaften sortiert und viele, mittlerweile historische Aufnahmen gerettet. „Auf einem ist die Hüle in Schopfloch dokumentiert und anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Papierfabrik Scheufelen 1955 war ,Papa Heuss’ in Oberlenningen und auf einem Foto zu sehen, auf einem anderen Gebhard Müller, der die neu gebaute Hochwangsteige einweiht.“ Ersterer war von 1949 bis 1959 der erste Bundespräsident der BRD, zweiterer Ministerpräsident von Baden-Württemberg.
