Recht
Aber wann ist ein Wald ein Wald? Diese Frage stellt sich derzeit in Neidlingen

Drei Richter vom Verwaltungsgerichtshof sind für einen Fall aus Mannheim nach Neidlingen angereist. Sie ­sollen vor Ort klären, ob die Gemeinde ein Vorkaufsrecht für ein Grundstück ausüben durfte. 

Waldwiese oder Wiese? Cordula Samuleit, Julia Usenbenz, Richter Rüdiger Albrecht, Johannes Fischbach und Anton Watzek (v. l.), Richter Wolfang Matejka und Sabine Speckmaier schauen sich die Pflanzen genau an. Foto: Thomas Zapp

Drei Richter suchen unter lauter Bäumen den Wald. Das klingt nach dem Anfang eines Witzes, ist an diesem Nachmittag in Neidlingen – etwas zugespitzt – aber tatsächlich der Fall. Mit Rüdiger Albrecht, dem Vizepräsidenten des Verwaltungsgerichtshofs, sind vier Forstbeamtinnen und -beamte als Experten dabei sowie Neidlingens Bürgermeister Jürgen Ebler und der Käufer des Grundstücks, Jan Hepperle. Auch die Richter Wolfgang Matejka und Sabine Speckmaier waren eigens aus Mannheim angereist, um sich mit festem Schuhwerk durch Brombeersträucher zu kämpfen, um das Streitobjekt aus nächster Nähe anzuschauen.

Darum geht es: Ein fast ein Hektar großes Flurstück in Hanglage, das zu einem Großteil aus Wald besteht und zu etwa einem Drittel unterhalb einer Böschung aus einer Art Wiese, wurde im Dezember 2017 für etwas mehr als 19.000 Euro vom Neidlinger Jan Hepperle erworben. Sein Vater Peter hat einen Zimmereibetrieb und ist Inhaber des Hotels Alte Kass. „Wir können das Holz gut nutzen“, nennt er einen Teil der Motivation. Er sei zwar der Käufer, aber die ganze Familie wäre involviert. Auf dem unteren Stück wolle er Obstbäume anpflanzen. 

Die Gemeinde hat im März 2018 aber ein waldrechtliches Vorkaufsrecht gezogen, wogegen Jan Hepperle geklagt hat. Der Einwand seines Anwalts Daniel Krummacher lautete, dass es sich bei dem unteren Stück nicht um Wald, sondern um eine Wiese handelt und somit die Gemeinde kein Vorkaufsrecht geltend machen durfte. Das Verwaltungsgericht in Stuttgart gab ihm Recht: Das Ausübungsrecht der Gemeinde gehe zu weit, weil das Vorkaufsrecht auf Wald beschränkt sei.

Dagegen ging wiederum die Gemeinde in Berufung, und der Fall landete 2022 in nächster Instanz beim Verwaltungsgerichtshof in Mannheim. Dort forderte man die Parteien auf, sich außergerichtlich zu einigen. Doch der Vorschlag des Neidlinger Rathauses, Jan Hepperle das untere Stück inklusive Grünstreifen bis zur Straße zu überlassen, stieß beim Käufer auf wenig Interesse. Der Fall ruhte, bis Jan Hepperle über seinen Anwalt im Februar dieses Jahres das Gericht wieder angerufen hat.

Bürgermeister Jürgen Ebler hat den Fall gewissermaßen von seinem Vorgänger Klaus Däschler „geerbt“, ist aber überzeugt vom Sinn der Bestrebungen: „Das Flurstück grenzt an drei Seiten an den Gemeindewald, wir wollen unseren Wald damit arrondieren“, sagt er. Außerdem wolle man den bestehenden Zaun und die Hütten abreißen und das Gebiet für alle als Erholungsraum zugänglich machen. 

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich nun entschieden, den Fall grundsätzlich anzugehen und dabei die Frage zu klären, wann ein Flurstück als Waldfläche gilt und wann nicht. Daher hörte Richter Rüdiger Albrecht am Vormittag im zum Gerichtssaal umfunktionierten Sitzungssaal des Rathauses zunächst vier aktive und ehemalige Forstbeamtinnen und -beamte zu der Sache, die das Grundstück zu verschiedenen Zeitpunkten in Augenschein genommen haben. „Gehölze müssen in einem Zusammenhang stehen. Das war nicht gegeben“, definiert der pensionierte Forstbeamte und Zeuge Walter Hegelau einen Wald.

„Obst- und Nussbäume sind kein Wald?“, fragt der Richter einen anderen Zeugen. „Richtig“, sagt Anton Watzek, ehemals Leiter des Kreisforstamtes, „aber darunter haben sich Waldbäume angesiedelt, Sämlinge von 30 bis 40 Zentimetern.“ Auf der längere Jahre nicht bewirtschafteten Fläche – der Vorbesitzer war dazu nicht mehr in der Lage – hat der natürliche Prozess eingesetzt: Verjüngung durch Flugsamen von Ahorn, Esche oder Buche. „Eindeutig Waldbestände“, macht der Forstbeamte Johannes Fischbach aus.

 

Ein Baum pro Quadratmeter

Beim Vor-Ort-Termin geht es dann an die Details, um die Frage zu klären, was eigentlich an Waldpflanzen vorhanden ist – und: Wie war es vor sieben Jahren zum Zeitpunkt des Kaufs? „Bei der Fläche handelt es sich um eine Waldsukzessionsfläche“, sagt Bürgermeister Ebler, der damit auch die Meinung der Forstleute teilt. „Mindestens einen Waldbaum pro Quadratmeter“, macht Anton Watzke aus. Er zeigt den Richtern vor Ort, wie alt die Triebe sind: zwischen vier und fünf Jahre.

Die Plädoyers der Anwälte finden ebenfalls auf feuchter Wiese oder Waldwiese, je nach Sichtweise, statt: „Wald im Sinne einer Sukzessionsfläche habe nicht vorgelegen“, sagt Anwalt Krummacher. Das Vorkaufsrecht der Gemeinde sei zu weitreichend. Er sieht seine Sache gestärkt durch die „Augenscheinnahme“. Der Anwalt der Gegenseite, Dieter Scheiblen, sieht das anders: Das Waldgrundstück würde verbunden mit dem Gemeindewald, der vorgelagerte Bereich sei als „dienende Fläche“ für die Holzbewirtschaftung zu sehen. „Wir haben Wald im Sinne des Waldgesetzes.“

Das letzte Wort haben nun die Richter: Ein mündliches Urteil wird für Montag erwartet, die schriftliche Begründung kann dann einige Wochen dauern.