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Alexander Neef aus Roßwälden ist in Paris Direktor im Reich des Phantoms

Interview Alexander  Neef aus Roßwälden leitet seit Kurzem die Pariser Oper. Der Herr über 1500 Angestellte und einen Geist hat eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe übernommen – nicht nur wegen Corona. Von Marcus Zecha

Die Pariser Oper hat gleich zwei berühmte Häuser: Opéra Bastille und Opéra Garnier. Seit September ist Alexander Neef Direktor des größten Opernhauses der Welt. Doch Besucher hat er seither kaum gesehen. Und auch das Phantom bleibt auf Abstand.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie erfuhren, dass Sie bald dem größten Opernhaus der Welt vorstehen?

Alexander Neef: Das Gefühl ist irgendwo zwischen Enthusiasmus und Demut angesiedelt. Ich war ja schon in den Jahren 2004 bis 2008 als Besetzungs-Chef an der Pariser Oper, ich kannte also das Haus. Es ist eine wahnsinnig tolle Gelegenheit, an diesen wunderbaren Theatern Oper machen zu dürfen.

Die Verkündung des neuen Direktors war so bedeutend, dass sie im Elyséepalast verlesen wurde. Sie als Deutscher im Heiligtum französischer Kultur, Ihr Name in allen großen Zeitungen vom Figaro bis zur New York Times – wird einem da nicht ein wenig schwummrig?

Neef:Entscheidend ist, dass man seine Arbeit macht. Natürlich ist es wichtig, dass ich mich als Direktor öffentlich äußere, aber ich muss den Worten dann auch Taten folgen lassen. Wie kommt man aus einem kleinen schwäbischen Dorf an die größte Oper der Welt? Es gibt da zwei wichtige Elemente: erstens die Offenheit meiner Eltern, die mich aktiv bei meinen Interessen wie Musik und Literatur unterstützt haben. Und zweitens die öffentliche Schulausbildung mit Musikerziehung von der ersten bis zur 13. Klasse. Im Raichberg-Gymnasium in Ebersbach habe ich die Grundlagen erhalten für das, was ich täglich für meinen Job brauche. Ich denke oft, was für ein Glück ich da hatte.

Denken Sie da auch an eine bestimmte Person?

Ja, der Musiklehrer und Chorleiter Wolfgang Proksch hat mir viel mit auf den Weg gegeben, aber er war nicht der einzige.

Wie viele Ihrer vielen Angestellten haben Sie schon kennengelernt?

Auch wenn ich versuche, präsent zu sein und durch die verschiedenen Abteilungen zu gehen, kenne ich nicht alle persönlich.

Das denke ich mir, bei 1500 Angestellten!

Ja, wobei nur etwa 500 im künstlerischen Bereich tätig sind, etwa 500 in der Technik, und der Rest in der Verwaltung.

Gibt es in Ihrem Haus gerade so etwas wie eine Arbeitsroutine? Oder ist angesichts Corona alles anders?

Generell ist im Theater jeder Tag anders. Was in Corona-Zeiten hinzu kommt, ist, dass man viel kurzfristiger arbeiten muss als gewohnt. Normalerweise wären wir jetzt in einer Spielzeit, die drei oder vier Jahre vorher geplant worden ist, und würden unsererseits die Spielzeit in drei Jahren vorbereiten. Das ist verschoben zugunsten der Lösung praktischer Probleme. Wir durften seit Ende Oktober unser Theater nicht öffnen. Wir dürfen aber proben – derzeit zum Beispiel den Faust –, um Stücke über unsere Internetseite oder unsere öffentlich-rechtlichen Partner zu übertragen.

Sie haben sich von 2004 bis 2008 als Casting-Direktor der Pariser Oper unter Gerard Mortier einen Namen gemacht. Was haben Sie an Mortier besonders geschätzt?

Ohne ihn wäre ich überhaupt nie zur Oper gekommen. Als ich mit der Uni in Tübingen fertig war, hat er mir die Möglichkeit gegeben hat, für ihn zu arbeiten: zunächst als Assistent, später mit wichtigeren Verantwortungsbereichen. Außergewöhnlich an ihm war seine Neugierde sowohl Kunst als auch Künstlern und jungen Menschen gegenüber. Außerdem hat er Oper geliebt. Er war der Auffassung, dass Oper nicht nur für die Kunst selbst wichtig ist, sondern auch zum Nachdenken einladen sollte.

Im Juni 2018 wurden Sie von Bundespräsident Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Hat Sie das mit Stolz erfüllt?

Die deutsche Botschafterin hat mich bei einem Mittagessen in Ottawa überrascht. Ich hatte nichts geahnt. Aber ich habe mich sehr geehrt gefühlt.

Was nehmen Sie von Ihrer Arbeit in Kanada mit?

Ich komme aus einer wesentlich kleineren Struktur mit weniger staatlicher Unterstützung. Gerade in Corona-Zeiten müssen wir uns fragen, was wir eigentlich beitragen für die Gesellschaft und wie wir auch den Menschen helfen können, die Unterstützung brauchen. Das ist schon wunderbar, sich da in einem Kontext zu bewegen, wo man nicht jeden Tag darum kämpfen muss, die Wichtigkeit von Kunst zu bestätigen.

Sie haben den Direktorenposten in Paris schon früher übernommen.

Ja, fast elf Monate früher als geplant, am 1. September. Mein Vorgänger Stéphane Lissner hatte eine neue Position in Neapel angenommen, ich war in Toronto, und alles war lahmgelegt wegen Corona. Dann hat Macron sein Kabinett ausgetauscht, und die neue Kulturministerin wollte, dass ich früher komme, um mich gleich um die Oper zu kümmern. Dass uns Corona noch viel länger in seinen Fängen hält, wusste damals noch niemand.

In Paris müssen Sie die maroden Finanzen in Ordnung bringen, das Haus gegen Rassismus positionieren und den Spielbetrieb unter Pandemiebedingungen ermöglichen. Eine Herkulesaufgabe?

Das wäre eine Herkulesaufgabe, wenn man es alleine machen müsste. Ich habe hier ein Team, dem ich sehr vertraue. Und ich denke, dass wir das zusammen hinkriegen. Gerade eine solche Pandemie kann auch eine Chance sein, sich darauf zu besinnen, was wirklich wichtig ist, und auch die inneren Konflikte, die in einer so großen Institution immer bestehen, zu überwinden.

Bleibt da noch Zeit, sich um die Existenz des bekanntesten Geschöpfes der Pariser Oper zu kümmern – das Phantom der Oper?

Das Phantom habe ich immer noch nicht getroffen. Ich denke, für das Phantom ist es gerade auch ein wenig einsam – so ganz ohne Vorstellungen.

Und für Sie? Ist noch Zeit für „Heimaturlaub“? Ihre Eltern leben ja in Roßwälden.

Wir wären sicher oft in den Zug gestiegen, doch die Vorsicht, die wir uns wegen Corona auferlegen mussten, hielt uns lange Zeit davon ab. Aber nach vielen Jahren Kanada ist das Schöne an meinem neuen Job, dass Stuttgart in gut drei Stunden mit TGV und ICE zu erreichen ist.

Die Oper – Institution mit zwei berühmten Häusern

Oper Zur Opéra National de Paris gehören neben der traditionsreichen Opéra Bastille auch die Opéra Garnier, unter der der Legende nach das berüchtigte Phantom hausen soll.

Direktor Alexander Neef, aufgewachsen in Ebersbach, hat in Tübingen lateinische Philologie und Geschichte studiert. Die Wende zur Oper kam mit einem Praktikum bei den Salzburger Festspielen unter Gerard Mortier, der ihn 2004 zum Casting-Direktor der Pariser Oper machte. Mit34 Jahren wurde Neef 2008 Generaldirektor der Canadian Opera Company in Toronto, die der Roßwälder bis zu seinem Wechsel nach Paris leitete und zu einem der bedeutendsten Häuser Nordamerikas machte. Er arbeitete weltweit mit Opernhäusern zusammen und holte etwa die Salzburger Inszenierung von „Figaros Hochzeit“ nach Toronto. Neef wird tiefes „Verständnis für die kulturellen Höhen und menschlichen Abgründe der deutschen Geschichte“ nachgesagt.

Amtszeit Alexander Neefs Amtszeit endet voraussichtlich im Juli 2027. Angetreten hat er seinen Posten nach dem längsten Streik in der Geschichte der Nationaloper – und nach der pandemiebedingten Annullierung von mehr als 400 Veranstaltungen.

Manifest Auf Alexander Neefs Wunsch hat das größte Opernhaus der Welt einen „Rapport sur la diversité“ zum Problemkomplex „Ethnische Vielfalt“ in Auftrag gegeben. Ausgangspunkt war ein Manifest „über die Rassenfrage an der Pariser Nationaloper“, das elf farbige Mitglieder des Pariser Balletts, des Chors sowie des Vereins der Opernfreunde im Sommer des vergangenen Jahres aufgesetzt hatten. mz