Bei der Betriebsfeier, zum Abendessen, auf dem Stadtfest – die Gelegenheit für ein Gläschen Wein, Bier oder Schnaps bietet sich nicht selten. Doch häufig bleibt es dabei nicht. Ein Glas wird zu einer Flasche und die Ausnahme zur Gewohnheit. Problematisch kann der Konsum aber schon viel früher werden.
Alkohol ist in der Europäischen Region für ein Elftel aller Todesfälle direkt verantwortlich – das berichtet die World Health Organisation (WHO). Im internationalen Vergleich sticht Deutschland als Hochkonsumland heraus, in dem noch immer überdurchschnittlich viel getrunken wird.
Man wird ja eher komisch angeguckt, wenn man sagt, dass man heute vielleicht keinen Alkohol trinken möchte.
Katrin Janssen, Leitung der Beratungsstelle des Landkreises
Laut einer Auswertung des Instituts für Gesundheitssystemforschung der Barmer sind in Deutschland mehr als 1,4 Millionen Menschen wegen Alkoholsucht in medizinischer Behandlung. Mehr als zwei Drittel waren Männer. Dabei handelt es sich lediglich um diagnostizierte Fälle. Die Dunkelziffer ist deutlich höher.
Wie Renate Mahle von der Beratungsstelle für Sucht und Prävention des Landkreises Esslingen berichtet, ist Alkoholabhängigkeit auch in der Region keine Rarität. „Der traditionell größte Anteil unserer Klienten kommt aus dem Alkoholbereich“, berichtet die Suchttherapeutin. „Das war schon immer so.“
Der Entschluss zur Beratung
Während viele der Menschen, die wegen des Konsums von illegalen Drogen an einer Beratung teilnehmen, das nicht freiwillig, sondern aufgrund einer juristischen Verordnung tun, kommen die allermeisten Menschen im Alkoholbereich laut Renate Mahle nicht aus Zwang.
Ganz eigeninitiiert ist die Beratung oft aber nicht. Wie Katrin Janssen von der Beratungsstelle erklärt, sei Druck von Angehörigen oder dem Arbeitgeber – etwa durch die Androhung einer Trennung oder Kündigung – deutlich häufiger die treibende Kraft als die eigene Einsicht.
Ein weiterer typischer Faktor, so Renate Mahle, sei der Führerscheinverlust: „Natürlich ist das mit viel Geld und unangenehmen Behördengängen verbunden, aber ganz viele Menschen deuten das Ganze irgendwann doch als Chance für sich.“
Dass die Suchtberatung nicht selten Geschichten von einem alkoholbedingten Verlust des Führerscheins hört, ist nicht überraschend: Im gesamten Zuständigkeitsbereich des Polizeipräsidiums Reutlingen (PPR) wurden im vergangenen Jahr fast 1800 Autofahrer zur Anzeige gebracht, weil sie zu tief ins Glas geschaut und sich dann hinters Steuer gesetzt hatten.
Auch die Verkehrsunfälle unter Alkoholeinfluss sind 2024 im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen: Im Landkreis Esslingen gab es 172 Vorfälle – 6,2 Prozent mehr als im Jahr 2023. Bei einem Viertel davon wurden Personen verletzt. Auch in Kirchheim stieg die Zahl von elf auf 17, was sich allerdings noch im Bereich der üblichen Schwankungen bewegt.
Alkohol zur Stressbewältigung
Eine Baustelle sieht Katrin Janssen im Stellenwert, den Alkohol in der deutschen Gesellschaft hat. „Alkohol ist vergesellschaftet“, erklärt die Fachfrau. „Man wird ja eher komisch angeguckt, wenn man sagt, dass man heute vielleicht keinen Alkohol trinken möchte.“ Dass alkoholische Getränke rund um die Uhr erhältlich und verhältnismäßig günstig sind, befeuere den Konsum weiter.
Doch neben Motivatoren wie Tradition, Spaß und dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit kann auch die Bewältigung von Angst und Stress ein Konsumgrund sein. „Wir leben in einer sehr herausfordernden Zeit“, gibt Renate Mahle zu bedenken. „Politische Krisen, der Klimawandel. Dass Menschen da konsumieren – und dann natürlich das, was man am leichtesten kriegt –, ist keine Überraschung.“
Junge Menschen trinken weniger
Besonders häufig von Alkoholsucht betroffen sind Menschen in der zweiten Lebenshälfte. Wie Katrin Janssen berichtet, ist Alkohol neben verschreibungspflichtigen Medikamenten das gängigste Suchtmittel bei Abhängigkeit im Alter. „Man kann auch sehr spät noch in Lebenskrisen kommen“, betont Renate Mahle. „Wenn ich 50 bin und noch nie ein Suchtproblem hatte, heißt das nicht, dass ich keins entwickeln kann.“
Ein problematisches Trinkverhalten ist auch unter jungen Leuten keine Seltenheit. Generell geht der Alkoholkonsum unter Jüngeren jedoch zurück. Katrin Janssen spricht von einem bewussteren Konsum – auch aufgrund gesellschaftlichen Diskurses über die Gefahren.
Problematisch wird es, wenn Alkohol einen Zweck erfüllt.
Renate Mahle, Suchttherapeutin bei der Beratungsstelle des Landkreises
„Es gibt neue Richtlinien und Einschränkungen“, so Janssen. „Es wurde auch die These widerlegt, dass ein Glas Wein pro Tag nicht schädlich oder sogar gesundheitsförderlich ist. Es gibt keinen gesunden und keinen risikofreien Alkoholkonsum.“
Es wird früher Hilfe gesucht
An den Gesprächszahlen im Alkoholbereich hat sich bei der Beratungsstelle in den vergangenen Jahren kaum etwas geändert. Einen Wandel gab es lediglich bei dem Alter, in dem Menschen eine Beratung in Anspruch nehmen. „Vor einigen Jahren waren die Klienten noch zwischen 50 und 65“, sagt Renate Mahle. „Jetzt hat sich das zehn Jahre nach vorne verschoben, was aus unserer Sicht sehr positiv ist.“ Denn: Je früher man die Menschen erreichen könne, desto besser stünden die Chancen auf einen gelungenen Ausstieg.
Höhere Preise als Maßnahme
Eine mögliche Gegenmaßnahme sieht die Suchttherapeutin in der Erhöhung der Alkoholpreise, die laut Mahle „ein ganz wichtiger Eckpfeiler“ seien. Leichte Verfügbarkeit und niedrige Preise würden die Attraktivität eines Suchtmittels erhöhen. Natürlich könne man das Abhängigkeitsproblem so nicht ganz aus der Welt schaffen, „aber es ist ein Regler, an dem man nachsteuern kann“. Außerdem, so Mahle, könne es Geld generieren. „Das sind große Summen, die man zum Beispiel in die Suchthilfe und die -prävention investieren könnte.“
Doch ab wann ist das Konsumverhalten tatsächlich problematisch? Ungesund, so Katrin Janssen, sei es ohne jeden Zweifel, sobald man das Gefühl habe, nüchtern etwa nicht schlafen, entspannen oder Spaß haben zu können. „Wenn der Alkohol fehlt, sobald er nicht mehr da ist, dann ist das ein eindeutiges Zeichen“, fasst Renate Mahle zusammen. „Problematisch wird es, wenn Alkohol einen Zweck erfüllt.“
Nähere Informationen zu dem kostenfreien Beratungsangebot gibt es auf www.landkreis-esslingen.de/start/service/suchtundpraevention. Alternativ bietet die Seite www.suchtberatung.digital eine Möglichkeit für eine professionelle Online-Beratung, die auch anonym stattfinden kann.
Weitere relevante Fakten
Alkohol ist als krebserregend eingestuft und erhöht das Risiko für mindestens sieben Krebsarten, wie etwa Darmkrebs und Brustkrebs.
Die ökonomischen Folgen des Alkoholkonsums sind enorm. Jährlich belaufen sich die direkten und indirekten Kosten für die Gesellschaft allein in Deutschland auf schätzungsweise 57 Milliarden Euro. Indirekte Kosten durch Alkoholkonsum entstehen etwa durch vorzeitige Verrentung, Produktivitätsverluste und Sterblichkeit.
Europa ist der Kontinent, auf dem mit Abstand am meisten getrunken wird.
Im Durchschnitt konsumieren Deutsche über 15 Jahren pro Kopf mehr als 10 Liter reinen Alkohol im Jahr. Das entspricht etwa 500 Standardflaschen Bier. In den 1980er-Jahren waren es noch rund 15 Liter Reinalkohol pro Person.
Neun Millionen Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren weisen einen problematischen Alkoholkonsum auf. Diese Bezeichnung beschreibt ein Konsumverhalten, aufgrund dessen bereits negative Folgen auftreten, wie körperliche oder psychischen Beeinträchtigungen, soziale oder berufliche Probleme, oder auch ein Kontrollverlust über die Menge des konsumierten Alkohols.
Schätzungen zufolge sterben in Deutschland jährlich über 40.000 Menschen vorzeitig an den Folgen von Alkoholkonsum.
Bei vielen Gewalttaten, insbesondere bei Fällen von Partnerschaftsgewalt, ist Alkohol im Spiel.

