Er hat mit dem Fahrrad alleine den Erdball umrundet, bei tadschikischen Viehhirten in Jurten genächtigt, Reisebusse durch Marokko gelenkt und Almhütten bewirtschaftet. Dabei könnte er sich‘s am Schreibtisch gemütlich machen und als Maschinenbauingenieur einem geregelten Job nachgehen. Doch lange hält es Jörg Barner an keinem Ort aus. Selbstverantwortung, Arbeit in der Natur und mit den Händen, die eigene Urteilskraft als oberste Maxime – das sind die Regeln, nach denen er lebt. Vor wenigen Wochen war der 46-Jährige aus Owen wieder unterwegs. Und wieder in ungewöhnlicher Mission: mit 1300 Schafen über schneebedeckte Alpenpässe.
Die größte Gefahr droht, wenn der Nebel kommt. Wenn sich jede Orientierung auf das Bimmeln von Glocken beschränkt. Das sind Momente, die Leben kosten. Abgestürzte Tiere, Verletzungen, die an Ort und Stelle versorgt werden müssen, Erschöpfungstod. Das alles zieht mit, wenn sich der endlos erscheinende Treck zweimal im Jahr aufmacht. In diesem Fall von den saftigen Sommerweiden im österreichischen Ötztal über die 3019 Meter hoch gelegene Similaunhütte und das Schnalstal bis hinab ins Vinschgau auf Südtiroler Seite, wo etwa 20 Besitzer die Tiere im Stall überwintern. Rund 45 Kilometer und mehr als 3000 Höhenmeter über Gletscher und durch Wildbäche sind auf diesem Weg zu bewältigen.
Die sogenannte Transhumanz im Ötztal folgt einer Tradition, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Jörg Barner ist seit zehn Jahren schon dabei. Als Teil einer Mannschaft aus Treibern und Hunden, die die Tiere während der mehrtägigen Tour geleiten, versorgen und bewachen. Während seiner Ausbildung zum Bergretter in Brixen kam der Kontakt zustande. Heute ist das Ereignis, das im Schnalstal inzwischen als Touristenattraktion vermarktet wird, fester Termin in seinem Jahreskalender.

Treiber sind gefragt, der Job ist fordernd. Die meiste Arbeit wartet vor dem eigentlichen Aufbruch, wenn die Schafe, auf mehr als 6000 Hektar Weidefläche verteilt, zusammengetrieben werden müssen. Das Schnalser Bergschaf dominiert die Herde. Eine robuste Rasse, die im alpinen Gelände zuhause ist. Auf dem langen Marsch durch meist wegloses Gelände lauern dennoch etliche Gefahren. Je nach Wetterlage müssen Passagen erkundet und von den Treibern rechtzeitig freigeräumt werden. Unterstützt werden sie dabei von Spähern, die mit Fernglas und Sprechfunk auf der gegenüberliegenden Talseite postiert sind. Ein reibungsloser Trieb ist wichtig. „Die Herde drängt von hinten nach“, sagt Jörg Barner. „Wenn es vorne stockt, laufen die Tiere Gefahr, in den Abgrund gedrängt zu werden“. Verluste sind dennoch an der Tagesordnung. „Etwa zwei Prozent behält der Berg“, sagt er. Dabei kommt es nicht selten vor, dass schwer verletzte Schafe von den Treibern erlöst werden müssen. „So etwas erlebt niemand gern“, sagt Jörg Barner. In solchen Regionen bilden Mensch und Tier eine enge Schicksalsgemeinschaft. Manchmal gibt es aber auch glückliche Momente. In diesem Jahr fand ein verletztes Tier sicher den Weg ins Tal – mit der Materialseilbahn der Similaun-Hütte.
Gefahren lauern aber auch an anderer Stelle. Dass in diesem Jahr mehr Tiere als sonst den Sommer auf den Weiden im Niedertal verbracht haben, hat einen einfachen Grund: Der Wolf wird in Südtirol zur wachsenden Bedrohung. Besonders hohe Verluste verzeichnet der Osten. Seitdem bringen immer mehr Bauern aus dem Pustertal ihre Tiere über die Grenze. Im Ötztal blieben die Viehbauern bisher von Rissen verschont. Wie lange das so bleibt, weiß niemand. Jörg Barner hat sich seine eigene Meinung zu diesem Thema gebildet: „Es macht einen traurig, zu sehen, dass die Politik nicht imstande ist, die traditionsreiche Almwirtschaft zu bewahren“, sagt er.
Rückzugsort auf der Alb
Er will auch im nächsten Jahr wieder dabei sein und seinen Teil beitragen, dass die Tradition fortlebt. Im Moment verdient er sich als Waldarbeiter für ein Forstunternehmen auf der Alb. Nebenbei bewirtschaftet er ein altes Bauernhaus mit großem Grundstück und Hühnermobil droben in Erkenbrechtsweiler. Das Anwesen haben er und seine Lebensgefährtin von den Großeltern übernommen, und wann immer jemand auf der Durchreise dort strandet, findet er einen Platz für die Nacht im Garten. So wie er selbst es erlebt habe auf allen seinen Reisen, sagt Jörg Barner. Was als nächstes auf ihn wartet? „Keiner weiß, was das Leben bringt. Das ist auch gut so“, sagt er. Bisher hat er auf jede Frage eine Antwort gefunden. Ob es etwas gibt, was er nicht kann? „Vielleicht Geld verdienen“, meint er und lacht. Das sei am Ende aber auch nicht wichtig.

