Die Fahrradwerkstatt sieht aus wie aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts in einem Berliner Hinterhof. David kauert am Steinboden und bessert einen Schlauch aus, der schon zehn Flicken hat. Der Student der Uni Hohenheim, der in Göppingen und Kirchheim aufgewachsen ist, arbeitet einen Monat lang beim Camp Kara Tepe auf Lesbos und unterstützt mit vielen anderen Freiwilligen Geflüchtete. Neben ihm steht ein Mann aus Afghanistan. Er misstraut nicht der Reparatur, er bewacht sein Fahrrad. Das ist nämlich viel wert: Es garantiert ihm ein Stück Freiheit und Mobilität.
Ein Hilfsprojekt für Geflüchtete auf Lesbos – gibt es da nicht Wichtigeres als eine Fahrradwerkstatt?
David: Natürlich gibt es für Geflüchtete Wichtigeres als Fahrräder. Nur wer sich nicht mehr um Essen, Trinken und Kleidung kümmern muss, kann sich Gedanken darüber machen, wie er schneller von A nach B kommt. Die Fahrradwerkstatt ist deshalb nur ein kleiner Teil des Projektes, für das wir hier arbeiten. Sie ist auf dem Gelände des Parea-Community-Centers. Geflüchtete haben so die Chance, tagsüber das Camp zu verlassen, in dem sie teilweise über mehrere Jahre wohnen müssen. Von unterschiedlichen Organisationen bekommen sie, falls vorhanden, Kleidung, Mittagessen, psychologische Hilfe oder eben eine Fahrradreparatur. Es sind nicht die einzelnen Beiträge, die wirklich helfen, sondern das Zusammenspiel aller Organisation, die zumindest den Anschein einer guten Atmosphäre erwecken wollen. Eine „Dienstleistung“, die ein Stück über das hinausgeht, was man unbedingt zum Leben braucht, ist absolut kein Luxus, sondern kann ein erstes Gefühl von Würde und Teilhabe in Europa vermitteln.
Warum ist ein Fahrrad auf einer Insel so wichtig?
Der wichtigste Punkt ist, dass das Fahrrad den Bewegungsradius vergrößert. Die Menschen müssen nicht mehr jede Strecke zu Fuß zurücklegen, sondern können sich auch spontan entscheiden, etwa in die nahe Stadt zu fahren. Das Camp ist etwa 50 Gehminuten von der nächsten Stadt entfernt. Es gibt dort nicht besonders viel zu erleben, und wer so lange mit vielen Menschen in kleinen Zelten wohnt, freut sich natürlich über Abwechslung. Hinzukommt, dass das Fahrrad für einige viel mehr ist als nur ein Fortbewegungsmittel. Es ist neben Handy und Kleidung oft das einzige Eigentum auf der Insel. Außerdem ist es etwas, um das man sich kümmern kann, und es lässt sich durch Reparaturen verbessern oder auch verschönern. Das Fahrrad dient auch als Statussymbol und kann getauscht und verkauft werden. Für mich persönlich war es das beste Gefühl, zu sehen, wie Leute, die bisher kein Rad hatten, ein „neues“, repariertes Fahrrad bekommen haben. Die Warteliste ist lang und der Aspekt, dass man dann mehr hat als nur das Nötigste, gibt den Leuten ein gutes Gefühl.
Wie muss man sich die Fahrräder dort vorstellen?
Mit Fahrrädern in deutschen Läden haben die Bikes auf Lesbos wenig gemein. Es handelt sich um Räder, die hier entsorgt wurden, weil man sie als nicht reparierbar eingestuft hat. Man kann froh sein, wenn beide Laufräder dran sind, eine der beiden Bremsen funktioniert. Gangschaltungen sind die absolute Seltenheit, und an Lichter oder bequeme Sattel ist überhaupt nicht zu denken. Trotzdem schaffen es die Leute die Fahrräder wieder flott zu machen und sehen sie nicht als „Schrott“. Ich selbst bin kein besonders guter Reparateur, war aber jeden Tag erstaunt, was meine Arbeitskollegen, die selbst auch geflohen sind und im Camp wohnen, noch retten konnten.
Wie kommt man dazu, dort zu helfen, und was lernt man?
Eigentlich braucht man einfach nur Zeit, etwas Geld um sich die Anfahrt und den Aufenthalt zu finanzieren, und die nötige Motivation. Man muss sich um gar nicht so viel kümmern. Ich persönlich bin über die Stuttgarter Hilfsorganisation Stelp hellhörig geworden. Stelp vermittelt Volunteers und hat Kontakte in viele Krisengebiete. Momentan bin ich durchs Studium ziemlich eingebunden, deshalb habe ich für die Semesterferien eine Möglichkeit gesucht, einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Natürlich lernt man unglaublich viele interessante Leute aus allen Ländern und Kulturen kennen. Man hat das Gefühl, etwas Nützliches zu tun und steckt mitten in einem Thema, über das man sonst nur mit großer Distanz reden kann. Außerdem lernt man viel über den Umgang mit Menschen, denen es schlechter geht, und in meinem Fall kommt natürlich als Bonus dazu, dass ich jetzt so gut wie alles an Fahrrädern mit wenig Werkzeug reparieren kann.
Gibt es auch Freizeit, und wie bewegt man sich dann fort?
Die Hilfsorganisationen arbeiten nicht 24 Stunden am Tag. Es gibt normale Arbeitszeiten, das Wochenende ist frei. Wer das Privileg hat, als Europäer zu helfen, kann die Insel erkunden. Lesbos ist viel schöner als sein Ruf und neben all den Problemen ein ganz besonderer Ort. Es gibt ursprüngliche griechische Dörfer, leckeres und preiswertes Essen, und die Natur ist mit Bergen, Stränden und Wäldern sehr vielfältig. Da die Insel groß ist, braucht man für Ausflüge den Bus oder ein Auto. Die Serpetinen-Straßen lassen auch Radlerherzen aus Europa höher schlagen.
Das Flüchtlingslager und das Hilfszentrum
Das Flüchtlingslager Kara Tepe liegt auf der griechischen Insel Lesbos nahe der Stadt Mytilini in Sichtweite des türkischen Festlandes. Es ist die Nachfolgeeinrichtung des im Herbst 2020 abgebrannten Erstaufnahmelagers von Moria. Derzeit beherbergt es etwa 2500 Geflüchtete.
Das Parea Center ist ein Community-Zentrum von insgesamt zwölf Hilfsorganisationen, angegliedert an das Flüchtlingslager von Kara Tepe. Ziel ist, das Zentrum zu einem einladenden Ort zu machen und den geflüchteten Menschen etwas Hoffnung sowie Hilfe und Unterstützung zu geben.
Volunteers aus ganz Europa, meist Studentinnen und Studenten wie David, arbeiten ehrenamtlich in Blöcken von mehreren Wochen jeden Wochentag von 10 bis 16 Uhr im Parea-Zentrum mit. Sie bieten dort Hilfe für Frauen, eine Fahrradwerkstatt, Sprachkurse und vieles mehr. kry