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Am Ende des Geldes: Zu viel Monat übrig

Bürgergeld Inflation, Energiekosten und steigende Lebensmittelpreise – der Diakonieverband im Landkreis Esslingen schlägt Alarm: Die Armut nimmt zu. Von Simone Weiß

Sie ist 60 Jahre alt und steht vor einer ganz neuen, schwierigen Lebenssituation. Wie das passieren konnte, davon berichtet die Frau, die auf den Fildern lebt, während einer Pressekonferenz des Kreisdiakonieverbands Esslingen: Ihr ganzes Leben lang habe sie gearbeitet, sei im sozialen Bereich tätig gewesen, habe unter anderem demenzkranke Menschen betreut und begleitet. Ein erfüllender Beruf, aber auch ein anstrengender und ein schlecht bezahlter. Wegen einer Krankheit habe sie ihre Arbeit aufgeben müssen. Der Rentenanspruch sei sehr gering. Seit zwei Jahren beziehe sie nun bereits Bürgergeld – doch das reiche hinten und vorne nicht.

Schicksale wie dieses kennt Reinhard Eberst vom Kreisdiakonieverband aus seinem Beratungsalltag. Die Biografien ähneln sich, sagt er. Alleinerziehende, Menschen mit niedrigem Einkommen, Familien mit vielen Kindern oder Geringverdiener mit oft zwei Jobs seien gerade so über die Runden gekommen. Rücklagen, Erspartes, ein finanzielles Polster hatten sie nicht. Inflation und hohe Energiekosten hätten sie hart getroffen: „Die Armut wächst.“
 

Viel Bürokratie, viel Verzweiflung

Das hat die 60-Jährige, die der Pressekonferenz telefonisch zugeschaltet ist, um ihre Anonymität zu wahren, am eigenen Leib erfahren. Über hilfreiche Apps, sagt sie, habe sie Metzger und Bäcker ausfindig gemacht, die ihre Waren abends zu einem geringeren Preis abgeben – und einen Discounter, der Artikel kurz vor dem Verfallsdatum günstig verkauft. Ihre Freunde wüssten, dass sie bei ihrer Geburtstagsfeier kein großes Menü auftischen könne. Ein selbst gebackener Kuchen und Kaffee seien für ihre Gäste in Ordnung. Das Beantragen staatlicher Leistungen sei aufwendig – viele Formulare, viel Bürokratie, viel Verzweiflung: „Man hat das Gefühl, man steht ganz alleine da.“

Eberhard Haußmann, Geschäftsführer des Kreisdiakonieverbands, erlebt solche Gefühlslagen oft bei seinen Klienten. Ärmere Haushalte seien aufgrund ihres geringen Einkommens und des hohen Anteils der Kosten für Lebensmittel und Heizung stärker von der Teuerung betroffen als andere Bevölkerungsgruppen. Im vergangenen Jahr habe der Kreisdiakonieverband 170  000 Euro, die hauptsächlich durch Spenden und Charity-Aktionen zusammengekommen seien, an Betroffene verteilt, um die größte Not zu lindern. 2021 seien es 110 000 Euro gewesen. In manchen Familien reiche das Geld am Monatsende nur noch für Nudeln mit Ketchup.

Das Bürgergeld, fügt Reinhard Eberst hinzu, stehe allen zu, die ihr Leben nicht aus eigener Kraft finanzieren können. Arbeitsfähige Personen, die gesundheitlich zu bis zu drei Stunden Arbeit pro Tag in der Lage wären, würden in der Regel 502 Euro im Monat zusätzlich zur Übernahme der Miete mit Nebenkosten erhalten.
 

Ohne Zeugnisse keine Arbeit

Eberst berichtet von einer Frau mit drei Kindern und einem schwer pflegebedürftigen Mann, die in seine Sprechstunde kam. Vor acht Jahren sei sie nach Deutschland gekommen, beherrsche die Sprache gut, doch ihre im Heimatland erworbenen Zeugnisse würden hier nicht oder nur nach vielen bürokratischen Hürden anerkannt. Das erschwere die Berufstätigkeit. Insgesamt 6 000 Euro habe sie sich bei finanziellen Engpässen von Verwandten geliehen – und die wollten ihr Geld zurück. Menschen wie diese Frau wüssten meist nicht, welche Unterstützung sie beantragen könnten. Oft, ergänzt Andreas Caspar, beim Kreisdiakonieverband für Öffentlichkeitsarbeit und Projekte zuständig, müssten fünf bis sechs Anträge vor dem Bezug staatlicher Leistungen gestellt werden. Ein Klient habe zu ihm gesagt: „Armsein – das ist ein Fulltime-Job.“

Diese Situation hat auch eine Frau mit vier Kindern kennengelernt, berichtet Reinhard Eberst von seiner Beratungstätigkeit. Sie arbeite seit vielen Jahren in einer großen Firma im Raum Kirchheim und verdiene etwa 1 900 Euro netto. Bisher sei es irgendwie gegangen – doch die Stromrechnung habe die Frau finanziell aus der Bahn geworfen.

Aus solchen Erfahrungen leitet Eberhard Haußmann Forderungen ab: Staatliche Leistungen müssten erhöht, der Mindestlohn für die etwa sechs Millionen Bezieher weiter angehoben werden. Den politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen schreibt er einen Ausbau der Kinderbetreuungs­angebote ins Stammbuch, damit etwa Alleinerziehende arbeiten könnten. Der soziale Wohnungsbau müsse vorangetrieben werden.

Bei der Frage nach der Finanzierbarkeit verweist Haußmann auf die hohen Folgekosten, die das Unterlassen nach sich ziehen würde: Kinder und Jugendliche bräuchten ein stabiles Umfeld, finanziell gesicherte Verhältnisse, die Chance zum Nutzen der Bildungsangebote und die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Fehlten diese Voraussetzungen, könnten die Folgen gravierend sein.

Dann berichtet er von einer scheinbaren Nebensächlichkeit: Der Kreisdiakonieverband achte darauf, dass Schulanfänger einen neuen Schulranzen bekommen. Gebrauchte seien zwar billiger, doch sie würden Kindern ein Gefühl der Ausgrenzung, des Andersseins, der Isolation vermitteln. Das solle vermieden werden: „Denn die Kinder sind unsere Zukunft.“