Facharztbesuche bringen uns an unsere Grenzen“, schildert die Mutter eines 40-jährigen Mannes mit Downsyndrom. „Die Ärzte erwarten, dass die Beschwerden kurz und knapp beschrieben werden und auf Fragen präzise geantwortet wird. Das kann mein Sohn aufgrund seiner Behinderung nicht.“ Solche Erfahrungsberichte kennt Bärbel Kehl-Maurer zu Genüge. Die ambulante medizinische Versorgung geistig oder mehrfach behinderter Erwachsener im Landkreis Esslingen sei verbesserungsbedürftig, meint die Vorsitzende der Lebenshilfe Kirchheim. Die Situation sei ja nicht nur für die Betroffenen schwierig, räumt sie ein. Auch für die Ärzte selbst: Wie sollen sie – oft unter Zeitdruck und unerfahren im Umgang mit gehandicapten Menschen – eine Diagnose stellen, wenn der Patient schwerwiegende Kommunikations- und Verhaltensstörungen aufweist?
Die Lösung des Problems könnte ein Medizinisches Zentrum für Erwachsene mit geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung (MZEB) sein, für dessen Schaffung sich Bärbel Kehl-Maurer und ihre Mitstreiter stark machen. Verschiedene Selbsthilfeorganisationen und Einrichtungsträger – die Lebenshilfe in Esslingen und Kirchheim, die Behindertenförderung Linsenhofen, die Karl-Schubert-Gemeinschaft, die gemeinnützige Gesellschaft „Das Wohnhaus Ostfildern“ und Angehörigenvertreter – haben sich in einer Arbeitsgruppe zusammengeschlossen, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Denn: „Es besteht großer Handlungsbedarf“, betont Bärbel Kehl-Maurer und verweist darauf, dass es um keinen kleinen Personenkreis gehe.
Die Krux ist: Während Kinder und Jugendliche mit Behinderung in einem sozialpädiatrischen Zentrum allumfassend medizinisch versorgt werden, fallen sie nach ihrem 18. Geburtstag aus diesem System heraus, erklärt Bärbel Kehl-Maurer. Ein erwachsener Mensch mit Behinderung müsse zum Hausarzt, der ihn bei Bedarf an entsprechende Fachärzte oder Therapeuten überweise. „Damit beginnt häufig eine Odyssee, die nicht nur die Betroffenen, sondern auch ihre Angehörigen sehr belastet“, sagt Bärbel Kehl-Maurer. „60 Prozent der Menschen mit Behinderung leben bei ihren Familien.“
Dass hier Defizite bestehen, hat der Gesetzgeber erkannt und im Juli 2015 die Voraussetzungen für die Gründung von Medizinischen Zentren für Erwachsene mit Behinderung – analog zu den Sozialpädagogischen Zentren – geschaffen. Seither haben bundesweit mehr als 50 MZEB ihre Arbeit aufgenommen. Zum Beispiel in Stuttgart: Das Diakonie-Klinikum gründete im Jahr 2020 in enger Zusammenarbeit mit dem Caritasverband, der Lebenshilfe, dem Behindertenzentrum und weiteren Partnern ein solches Behandlungszentrum. Es versteht sich als Lotse: Experten verschiedener Fachrichtungen schätzen den Gesundheitszustand eines schwerbehinderten Patienten ein und erstellen einen individuellen Therapieplan. Die Behandlung selbst erfolgt bei den niedergelassenen Ärzten und Kooperationspartnern.
Ein MZEB bringe Vorteile für alle Seiten, ist Bärbel Kehl-Maurer überzeugt: Angehörige und Betreuungseinrichtungen würden entlastet, bei Haus- und Fachärzten verringere sich der Zeitaufwand für Diagnostik, die Krankenkassen könnten ihre finanziellen Ressourcen gezielter einsetzen. Das Konzept will die Vorsitzende der Lebenshilfe Kirchheim beim nächsten Treffen der Kommunalen Gesundheitskonferenz vorstellen.
So könnte das neue Zentrum aussehen
Konzept Behandelt werden schwerstbehinderte erwachsene Patienten, die von einem Haus- oder Facharzt überwiesen wurden. Im Medizinischen Zentrum für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) arbeitet ein multiprofessionelles und in der Behindertenmedizin erfahrenes Team von Ärzten, Psychologen, Therapeuten und Sozialpädagogen. Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit wird der Patient aus vielen Blickwinkeln gesehen. So kann eine den jeweiligen Bedürfnissen angepasste Beratung, Behandlung und Therapie gewährleistet werden. Die Patienten kommen mit einem Befund zu den niedergelassenen Ärzten zurück.
Voraussetzungen Um in einem MZEB behandelt werden zu können, gibt es Eingangskriterien. Hierzu zählen zum Beispiel ein bestimmter Grad der Behinderung und das Vorliegen von Merkzeichen oder bestimmter Krankheitsdiagnosen. Die Zahl der Patienten pro Quartal ist gedeckelt.
Gesprächsrunde Im Landkreis Esslingen fehlt eine vergleichbare Einrichtung. „Notwendig sind ein multiprofessionelles Team und mehr Zeit, als das Regelsystem bisher leisten kann.“ Zu diesem Schluss kam eine Gesprächsrunde mit lokalen Vertretern der Ärzteschaft, der Krankenkassen, der Medius-Kliniken und des Kreises schon vor einem Jahr. „Als Ergebnis dieser Beratungen halten wir es für notwendig, ein MZEB im Landkreis Esslingen einzurichten“, unterstreicht Bärbel Kehl-Maurer in einem Brief an Landrat Heinz Eininger, der zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der Medius-Kliniken ist. Den kreiseigenen Krankenhäusern kommt ihrer Meinung nach bei der ganzen Sache eine zentrale Rolle zu. eh