Vom ersten Schultag an müssten sich die Familien darauf einstellen, dass der Unterricht ausfällt. So hatte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) im Kreis Esslingen vor Schulbeginn gewarnt – und ihre Vorhersage hat sich vielerorts bewahrheitet. In der ersten Schulwoche ist es für Familien zwar oft undurchsichtig, warum Stunden entfallen – ob wegen Einschulungsfeiern, Konferenzen oder tatsächlich wegen Personalmangels. Die Aussichten sind dennoch wenig rosig.
„Die Versorgung mit Lehrkräften ist nach wie vor angespannt“, bestätigt die Leitende Schulamtsdirektorin Corina Schimitzek. „Im Laufe des Schuljahres werden wir nicht umhinkommen, den Unterricht an der einen oder anderen Stelle zu kürzen“, prognostiziert sie für den Kreis Esslingen. 110 Lehrkräfte wurden in ihrem Zuständigkeitsbereich neu eingestellt, zudem wurden laut Schimitzek 180 Verträge für Krankheitsvertretungen abgeschlossen. Es gebe derzeit nur noch wenige offene Stellen, weil viele mit Vertretungskräften besetzt wurden.
Gravierend ist der Mangel aber bei den technischen Lehrkräften an beruflichen Schulen im Kreis. „Insgesamt wurden 70 Stellen ausgeschrieben, davon konnten 47 Stellen in allen Verfahren nicht besetzt werden“, teilt die Pressestelle der Regierungspräsidiums Stuttgart mit. In der Sekundarstufe I im Kreis, also an Hauptschulen, Werkrealschulen, Real- und Gemeinschaftsschulen, sind nach Angaben der Stuttgarter Behörde zwei Vollzeitäquivalente noch unbesetzt. An den anderen Schularten gebe es keine offenen Stellen. So kann zumindest der Pflichtunterricht stattfinden. Möglich ist das an allen Schularten aber nur durch verstärkten Einsatz von Vertretungskräften und durch weitere kreative Lösungen. An den Grundschulen im Kreis wurden Abordnungen, Deputatserhöhungen oder Gruppenzusammenlegungen als weitere Maßnahmen ergriffen, so das Regierungspräsidium. „Die Lehrkräfte arbeiten hier unter großem persönlichem Einsatz“, so eine Sprecherin der Behörde. Teilweise kommen auch Pensionäre mit befristeten Verträgen zum Einsatz, wie etwa an den beruflichen Schulen.
Die Situation an den Gymnasien sieht noch einigermaßen gut aus. „Aufgrund des Bewerbermangels wird es allerdings bei zukünftigen Ausfällen wahrscheinlich kaum noch möglich sein, Bedarfe durch Krankheitsvertretungen zu decken“, so das Regierungspräsidium. An den Gymnasien im Kreis Esslingen ist der Lehrermangel besonders groß in den MINT-Fächern und im Fach Bildende Kunst. An den beruflichen Schulen fehlen dem Regierungspräsidium zufolge vor allem Deutsch-Lehrkräfte für die Vorbereitungsklassen (VOBA), in denen Jugendliche mit keinen oder geringen Deutschkenntnissen Sprachförderung bekommen sollen.
„Es ist für die Lehrkräfte frustrierend, dass sie auch in diesem Schuljahr jonglieren müssen, um den Pflichtunterricht einigermaßen sicherzustellen“, kritisiert Mira Hartwig, die GEW-Kreisvorsitzende in Esslingen-Nürtingen. Die Bildungsgewerkschaft erwarte von der Landesregierung nachhaltige Investitionen und mehr Kreativität, um die 4500 Schulen im Land dauerhaft krisenfest zu machen. Außerdem müsse es eine schnelle Einigung zwischen Land und den kommunalen Spitzenverbänden über die Ausstattung der Schulen geben. „Während überall über Künstliche Intelligenz diskutiert wird, verstauben in den Schulen die ersten während Corona gekauften Notebooks, weil es keine IT-Unterstützung gibt“, so Hartwig.
Mehr Quereinsteiger
Die GEW hat nun 21 Vorschläge zur Lehrkräftegewinnung vorgelegt. Zu denen zählen etwa eine Erhöhung der Altersermäßigung, damit mehr Lehrkräfte vor dem Ruhestand bis zur Altersgrenze weiterarbeiten würden, und ein Qualifizierungsprogramm, das den Quereinstieg besser ermöglichen soll. Auch der Ausbau der Studienplätze vor allem für Sonderpädagogik und Grundschulen wirke zwar erst langfristig, müsse aber bereits 2023 gestartet werden.
„Warum ist die Landesregierung nicht wieder so mutig und bildet auch über den Bedarf an den Hochschulen Lehrkräfte aus?“, regt der stellvertretende GEW-Kreisvorsitzende Dominik Steiner an. Zumal die Schülerzahlen weiter steigen. „Sollen notwendige pädagogische Weiterentwicklungen wie der Ganztagsausbau, die Inklusion und die Stärkung der Beruflichen Bildung Utopien bleiben, weil wir dauerhaft nicht die pädagogischen Profis haben?“, fragt sich Steiner.
Prekär ist die Lage schon jetzt in den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) samt Schulkindergärten. „Sie sind nach jetzigem Stand nur eingeschränkt funktionsfähig“, meldet das Regierungspräsidium, „es sind bereits alle verfügbaren Vertretungslehrkräfte im Einsatz, sodass zukünftige Ausfälle nicht komplett kompensiert werden können.“ Es würden vor allem ausgebildete Lehrkräfte fehlen. „Schülerinnen und Schüler mit Behinderung werden nach Hause geschickt, was ihre Bildungschancen beeinträchtigt und die Familien belastet”, kritisiert Ruben Ell, Vorsitzender der GEW-Landesfachgruppe SBBZ.
Herausforderungen im Schuljahr
Unterrichtsqualität Eine Neuerung in diesem Schuljahr ist die datengestützte Qualitätsentwicklung, um den Unterricht zu verbessern. An den Schulen werden dafür unter anderem Rahmenbedingungen der jeweiligen Schule und Daten über den Leistungsstand und den Förderbedarf der Schüler erhoben. Dieses Schuldatenblatt ist dann Grundlage für sogenannte Ziel- und Leistungsvereinbarungen, die alle Schulen mit dem Schulamt abschließen. Das Staatliche Schulamt Nürtingen begrüßt diese Neuerung. „Wir sehen das als Chance der Weiterentwicklung“, so Leiterin Corina Schimitzek.
Vorbereitungsklassen Der Zustrom von Geflüchteten ist auch für die Schulen eine Herausforderung. Derzeit besuchen 1022 ukrainische Schülerinnen und Schüler eine Schule im Landkreis. Kinder ohne Deutschkenntnisse sollen in Vorbereitungsklassen (VKL) gefördert werden. Im Kreis werden nach Zahlen des Staatlichen Schulamts 1757 Schülerinnen und Schüler in VKL beschult, davon 888 in Grundschulen. 54 VKL sind an Grundschulen eingerichtet, 36 in der Sekundarstufe I. Es gibt eine Warteliste von aktuell rund 15 Schülern. Zudem werden an 23 Standorten 174 Lehrerwochenstunden für Sprachförderung vergeben. pep