Die riesige Regenbogenfahne an der Wand des Martin-Luther-Hofs hängt zur Hälfte herunter. Der robuste Stoff ist nicht einfach durchzureißen. „Das muss jemand mit einem Werkzeug gemacht haben“, ist sich Pfarrer Paul Bosler sicher. „Da waren auch sicher keine Kinder am Werk“, ergänzt er. Im Juni hatte man die vier mal fünf Meter große Fahne aufgehängt. Als Zeichen der Offenheit, wie Bosler erklärt. „Wir wollen zeigen, dass bei uns jeder willkommen ist, egal welche Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung.“ Die Offenheit scheint nicht jeder zu teilen. Nur drei Wochen blieb die Regenbogenfahne unbeschadet an der Wand in Richtung Ersbergstraße hängen, dann wurde sie in der Mitte durchgeschnitten.
Die Lutherkirche möchte gerne auch lesbische und schwule Paare segnen.
Pfarrer Paul Bosler
Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert, erzählt Bosler. Im vergangenen Jahr hatte die Gemeinde die Fahne im Juli anlässlich des Gemeindefestes außen an der Lutherkirche befestigt. Damals dauerte es nur zwei Wochen, bis jemand seinen Unmut auf unschöne Weise äußerte. „Die Fahne wurde mit Hundekot beschmiert“, erinnert sich Bosler. Kurz danach war sie ganz verschwunden. „Sie wurde heruntergerissen. Sonntagmorgens haben wir sie drei Straßen weiter gefunden“, sagt der Pfarrer. Er findet es erschreckend, wie schnell die Täter am Werk sind. „Die Fahne hängt jedes Mal nur kurz. Das müssen Leute sein, die das Ganze beobachten und dann schnell handeln.“
Der Schaden beträgt jedes Mal 600 Euro. Im vergangenen Jahr verzichtete die Gemeinde darauf, die Fahne nach dem Vandalismus wieder aufzuhängen. Nun hat man sich ganz bewusst dafür entschieden, den zerschnittenen Regenbogen nicht von der Wand zu nehmen. „Auch zerschnitten ist die Fahne ein Symbol“, erklärt Bosler. „Dafür, dass es hier viele Leute gibt, die hinter dem stehen, was wir vertreten. Aber auch viele Menschen, die bereit sind, Gewalt anzuwenden, um gegen eine offene Gemeinde und eine diverse inklusive Gesellschaft vorzugehen.“
Seit 2018 bezeichnet sich die Lutherkirche in Nürtingen als Regenbogengemeinde. „Die Lutherkirche möchte offen sein für alle Menschen und möchte gerne auch lesbische und schwule Paare segnen“, sagt Bosler. Segnen, nicht trauen. „Eine Trauung ist noch mal eine Stufe höher“, erklärt er vereinfacht. Die Trauung gleichgeschlechtlicher Paare sei in der evangelischen Landeskirche in Württemberg nicht erlaubt. Seit 2019 dürfen die evangelischen Gemeinden in Württemberg selbst darüber entscheiden, ob homosexuellen Paaren zumindest der kirchliche Segen zugesprochen wird. Dafür ist eine Dreiviertelmehrheit unter den zuständigen Pfarrpersonen und im Kirchengemeinderat nötig. In keiner anderen der 20 Landeskirchen ist der Weg für homosexuelle Paare so schwierig wie in Württemberg.
Der Kirchengemeinderat der Lutherkirche hat sich bereits 2019 einstimmig dafür ausgesprochen, gleichgeschlechtliche Paare zu segnen. „Genau wegen dieser Einstellung bin ich hier hergekommen“, sagt Bosler, der 2020 als Pfarrer in der Lutherkirche eingesetzt wurde. Seit nunmehr fünf Jahren wartet die Gemeinde bereits auf die Zustimmung des Oberkirchenrats, um die Segnungen vornehmen zu dürfen. „Irgendwann haben wir gesagt, dass wir nicht länger warten wollen“, sagt Bosler. Man wollte den Leuten sofort zeigen, dass hier jeder willkommen ist. „Deshalb haben wir unter anderem die Fahne besorgt.“
Die Zerstörungswut möchte man nicht weiter hinnehmen und geht jetzt in die Offensive. Eine Strafanzeige sei bei der Polizei bereits gestellt worden. „Dort wird es als politisch motivierte Tat behandelt“, sagt Bosler. Auf die Kritiker der Regenbogengemeinden möchte der Pfarrer aber aktiv zugehen und mit ihnen ins Gespräch kommen. Dazu hat die Gemeinde Siegfried Zimmer, Professor für evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, nach Nürtingen eingeladen. In seinen Vorträgen greift der bekannte Theologe immer wieder das Thema Homosexualität im Christentum auf. Seiner Meinung nach beruht die Verurteilung Homosexueller in der Kirche auf einem falschen Verständnis der Bibel.
Am Sonntag, 14. Juli, um 10.30 Uhr spricht Siegfried Zimmer im Gottesdienst in der Lutherkirche zum Thema Regenbogenkirche.