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Angst ist der schlechteste Begleiter

Gesellschaft Ältere fürchten sich oft im öffentlichen Raum. Selbstsicherheit ist ein wichtiger Schritt zur Sicherheit. Der Trainer Rolf Kersten vermittelt Senioren in Kursen, wie sie sich gegen mögliche Angriffe wappnen. Von Caroline Holowiecki

Hans-Dieter Mertiens ruft laut und hebt den ausgestreckten Arm, um sein Gegenüber auf Abstand zu halten: „Halt, stopp! Was wollen Sie von mir? Gehen Sie nach Hause!“ Immer und immer wieder übt der Leinfeldener dasselbe Szenario. Was ist zu tun, wenn ein Unbekannter sich plötzlich auf unangenehme Weise nähert? Wenn er im Vorbeigehen rempelt und offensichtlich Stress sucht? Was, wenn der Unbekannte sogar zupackt? Dies und mehr lernen Seniorinnen und Senioren an einem Vormittag in Leinfelden in einem altersgerechten Selbstverteidigungskurs. Organisiert wird dieser vom Kreisseniorenrat Esslingen. Auch das Referat Prävention des Polizeipräsidiums Reutlingen, das Landratsamt und die Altenhilfefachberatung sind mit im Boot.

Der Übungsleiter ist Rolf Kersten aus Esslingen. Der 82-Jährige ist Gewaltpräventionstrainer und Sicherheitsberater für Ältere, hat 60 Jahre Erfahrung in Judo und Selbstverteidigung. Im Landkreis Esslingen bietet er seit dem Jahr 2010 regelmäßig die dreistündigen Seminare an. Auf gut und gerne 20 Kurse kommt er pro Jahr. Grenzen aufzeigen, Nein sagen, laut auf sich aufmerksam machen, das alles ist essenziell – und kostet viele Menschen Überwindung. Vor allem mit dem Erheben der Stimme haben die Teilnehmer des Kurses zunächst hörbar Probleme. „Schreien geht gegen meine Natur“, sagt die 80-jährige Traude Hofmann aus Leinfelden. Rolf Kersten will sie und die anderen motivieren, im Ernstfall genau das zu tun, was ihnen normal widerstrebt.

Das Programm richtet sich an Menschen ab 60. Zunächst gibt es einen Theorieteil. Darin geht es auch um jene Delikte, für die Kriminelle gezielt alte Menschen aussuchen – Enkeltrick, Betrug mit falschen Polizisten oder Handwerkern, Schockanrufe oder getürkte SMS. „Dass ich älter bin, ist für die Leute besser“, sagt der Coach, denn so sei zu den gleichaltrigen Anwesenden eine Nähe hergestellt. Außerdem kann Rolf Kersten von eigenen Erfahrungen berichten – auch er hat diese Anrufe schon erhalten.

Körpersprache ist wichtig

Im praktischen Teil wird es schließlich körperlich. Den Teilnehmenden wird vermittelt, wie selbstsicheres Verhalten und ein aufrechter Gang die halbe Miete sein können. „Man weiß, dass vor allem die, die Angst haben, eher angegriffen werden“, sagt er. Altersgerechte Abwehrtechniken, Schutzhaltungen, deeskalierende Körperhaltungen und Ansprachen werden in Rollenspielen trainiert. Was tun, wenn ein Fremder pöbelt? Höflich, aber bestimmt signalisieren, dass man in Ruhe gelassen werden möchte. Nicht anfassen, das könne das Gegenüber als Angriff werten. Und ganz wichtig: „Wenn eine Waffe im Spiel ist, geben Sie alles her.“

Zum Kurs nach Leinfelden kommen die Gäste in erster Linie aus Sorge, selbst Opfer zu werden. „Ich erhoffe mir Tipps, wie ich mich im öffentlichen Raum verhalten soll“, sagt eine 77-Jährige aus Echterdingen. Gerade im Herbst und Winter fühle sie sich unwohl allein zu Fuß. „Ich verzichte aufs Theater oder auf Veranstaltungen, wenn es dunkel ist“, sagt sie. Ihre Freundin, eine Gleichaltrige aus Degerloch, kann das nachvollziehen. Sie gehe bei Dunkelheit stets mit dem Schlüssel in der Hand als potenzielle Waffe, außerdem habe sie in der Regel eine Trillerpfeife dabei. „Du bist als Frau ganz allein“, sagt sie. Nicht nur Frauen treibt das um. Auch ein 73-jähriger Mann aus Echterdingen möchte lernen, wie er sich zur Wehr setzen kann. „In der Zeitung kommen vermehrt Meldungen, dass etwas passiert ist, habe ich den Eindruck“, sagt er.

Sich unterwegs sicher zu fühlen, ist ein entscheidender Faktor für viele ältere Menschen. Angst schränkt die Lebensqualität ein. „Viele trauen sich abends in den Wintermonaten, wenn es dunkel wird, nicht mehr raus“, erklärt Kersten. Er versuche zu vermitteln, dass die Lage grundsätzlich nicht so schlimm sei – und dass auch vermeintlich Schwache sich wehren können. „K.o. schlagen kann man niemanden“, vielmehr gehe es darum, Angreifer zu überraschen, etwa mit einem Handballenschlag auf die Nase oder einem Tritt gegen das Schienbein. „Herr Kersten, das sollten wir jede Woche üben“, ruft Traude Hofmann. Tatsächlich: Ausprobieren, wie es ist zuzuschlagen, die eigene Stimme zu testen, das findet auch Hans-Dieter Mertiens eine wichtige Erfahrung. „Dass man die Bewegungen mal geübt hat.“

 

Ältere werden seltener angegriffen als Jüngere

Höchststand Ältere Menschen werden im öffentlichen Raum weitaus seltener Opfer von Straftaten als jüngere. Beispiel Körperverletzungen: Wie Zahlen des Polizeipräsidiums Reutlingen, das auch für den Landkreis Esslingen zuständig ist, zeigen, gab es 2022 nach einem pandemiebedingten Rückgang zwar wieder einen Anstieg in der Altersklasse 60 plus, „dennoch liegen die Fälle gerade in diesem Altersbereich noch deutlich unter dem Höchststand aus 2018“, so der Sprecher Christian Wörner.

2018 waren im Kreis Esslingen 120 Senioren Opfer von Körperverletzungen geworden – weitaus weniger als Jugendliche (196 Fälle), Heranwachsende (229) und Erwachsene zwischen 21 und 59 (1082).

Aktuell 2022 wurden 85 Senioren im Kreis in Körperverletzungen verwickelt, 6,5 Prozent aller Betroffenen. In den vergangenen fünf Jahren lag der Anteil der über 60-jährigen Opfer im Kreis Esslingen jeweils zwischen 4,42 und 7,05 Prozent. car