Region. Eigentlich ist der aus einer Gemeinde des Landkreises Esslingen stammende Angeklagte ein erfolgreicher und anerkannter Mediziner. Doch jetzt beschäftigt sich das Gericht unter anderem mit der Frage, wie der 57-jährige Akademiker zu einem Räuber werden konnte. Seit Mittwoch sitzt der Mann auf der Anklagebank einer Strafkammer am Stuttgarter Landgericht. Der Vorwurf lautet auf schwere räuberische Erpressung.
Am 19. Juni dieses Jahres betrat gegen 20 Uhr ein großer schlanker Mann – teilmaskiert mit einer Corona-Gesichtsmaske – die Norma-Filiale in der Albstraße in Wendlingen und ging direkt an die Kasse. Dort hielt er der Kassiererin drohend eine Pistole vor das Gesicht und forderte sie auf, ihm den Kasseninhalt zu übergeben. Aus Angst um ihr Leben öffnete die Frau die Kasse, aus der der Räuber den Betrag von 2100 Euro entnahm und dann aus der Filiale flüchtete, zunächst unerkannt.
Das änderte sich jedoch kurze Zeit später, nachdem die sofort alarmierte Polizei die Aufnahmen einer Überwachungskamera in dem Discounter überprüfte. Zusätzlich gab es auch noch einen Zeugen, der den Vorfall beobachtet und den Täter wohl auch erkannt hatte. Der jetzt in Stuttgart auf der Anklagebank sitzende 57-Jährige konnte daraufhin in seiner Wohnung angetroffen und festgenommen werden. Die Polizei konnte in der Wohnung sogar noch die geraubten Geldscheine und die Waffe finden. Allerdings soll es sich bei dieser Waffe lediglich um ein sogenanntes Dekorationsmodell gehandelt haben. Zum Zeitpunkt der Verhaftung trug der Mann auch noch dieselbe Kleidung, die er bei der Tat getragen hatte. Die Überraschung der Kriminalpolizei war jedoch groß, als man feststellte, dass der Verdächtige ein bekannter Mediziner aus dem Kreisgebiet ist.
Der 57-Jährige wurde gestern in Handschellen in den Gerichtssaal des Stuttgarter Landgerichts geführt und zur Anklagebank gebracht, wo er zunächst schweigend Platz nahm und der Verlesung der Anklageschrift des Staatsanwalts folgte: Er habe an jenem 19. Juni mit einer Dekowaffe eine Kassiererin der Wendlinger Norma-Filiale überfallen und dabei 2100 Euro erbeutet, lautete der knappe Vorwurf. Ein Straftatbestand, für den das Gesetz eine Mindeststrafe von fünf Jahren vorsieht.
Nach der Verlesung schilderte der Angeklagte seine Lebensstationen, Schule, Abitur und Humanmedizin-Studium, Promotion und spätere Berufspraxis als Chirurg in einer Klinik. Zudem sei er verheiratet gewesen und habe Kinder. Allerdings sei es im Jahr 2017 zur Scheidung gekommen.
Depressionen als Auslöser?
Schon zu dieser Zeit, so berichtet der Beschuldigte, habe er an einer massiven Depression mit Krankheitswert gelitten, sei bereits in verschiedenen stationären Behandlungen gewesen, was aber jedoch erfolglos gewesen sei. Er habe den Job aufgeben müssen und lebe jetzt mit einer sehr kleinen Rente in der Wohnung zusammen mit seiner Schwester. Er habe zwei erwachsene Töchter, mit denen er allerdings nicht mehr in Kontakt stehe, seit er sich in Untersuchungshaft befindet.
Wegen seiner krankhaften Depression könnte das Strafverfahren für ihn glimpflich enden – eventuell mit einer milden Strafe und zusätzlicher Anordnung einer Zwangstherapie. Dazu hat die Strafkammer in dem Verfahren einen psychiatrischen Sachverständigen hinzugezogen, der feststellen soll, inwieweit der Angeklagte zur Tatzeit krankheitsbedingt überhaupt schuldfähig war.
Zur Tat selbst machte der Angeklagte am gestrigen ersten Verhandlungstag noch keine Angaben. Das Gericht hat zur Aufklärung und zur Anhörung von Zeugen insgesamt sechs Prozesstage angesetzt. Ein Urteil gegen den 57-Jährigen soll am Dienstag, 23. Januar, gesprochen werden. Bernd Winckler