Luciano Giovane ist eigentlich ein Mensch, der in sich ruht. Doch was viele nicht bemerkt haben: Als der Seniorwirt der bekannten Weilheimer Pizzeria „Dolce Vita“ den Familienbetrieb im November 2020 wegen der Corona-Krise schließen muss, spürt er eine unglaubliche Nervosität in sich. „Ich war es gewohnt, immer viel zu laufen im Restaurant, immer war etwas los. Das fehlte plötzlich und machte mich verrückt“, erinnert er sich. Zur Untätigkeit verdammt, fasst der passionierte Tennisspieler und Radfahrer einen kühnen Plan: Er will seine Unruhe in Bewegung umsetzen und zwar zu Fuß: von Weilheim bis nach Altomonte. Sein kalabrischer Heimatort liegt etwa 300 Kilometer südlich von Neapel, am Spann des italienischen Stiefels. Das bedeutet inklusive kleinerer Umwege eine Strecke von „schlappen“ 1600 Kilometern.
Nun ist der drahtige Gastwirt zwar gut trainiert, aber kein Extremsportler. Außerdem ist er bereits 59 Jahre alt. Überzeugt von seinen Fähigkeiten ist er daher keineswegs: Entweder der Körper oder der Kopf würde ihm in Stich lassen, glaubt er, aber probieren will er es dennoch. Seine Frau Teresa, sein Bruder Alberto und Sohn Alexander haben ihn sowieso für verrückt erklärt, aus dem Freundeskreis zeigen einige dagegen sogar Interesse daran, mitzulaufen. Aber als sich Luciano am 5. Juni 2021 auf den Weg macht, geht er allein. Im nagelneuen Rucksack trägt er 15 Kilogramm Gewicht: Eine Wasserflasche, Wechselwäsche, ein Schlafsack und ein Zelt – man kann ja nie wissen. Am meisten Respekt hat er vor dem Durst, deshalb lässt er immer etwas Wasser in der Flasche.
Die ersten 27 Kilometer führen ihn nach Feldstetten. Von dort geht es über Ehingen nach Füssen, dann über Innsbruck zum Brenner. „Eigentlich wollte ich über den Fernpass, aber dort lag Schnee“, erinnert er sich. Die Alpenüberquerung hat es in sich, denn Luciano hat sich fest vorgenommen, die gesamte Strecke zu laufen. „Man sagte mir, ich sollte lieber die Seilbahn nehmen an manchen Stellen, aber ich bin alles zu Fuß gegangen, auch steile, nasse Straßen – mit 15 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken. Manchmal dachte ich: Wann geht es hier wieder runter?“, erzählt er lachend.
Irgendwann geht es dann doch bergab und von da an folgt einer der schönsten Abschnitte der Marathon-Wanderung: Fast 200 Kilometer den Fluss Etsch entlang über Trient bis nach Verona. In der Stadt von Romeo und Julia enden allerdings die gut ausgebauten Geh- und Radwege. Je weiter er an der Adriaküste Richtung Süden läuft, über Ravenna, Rimini und Ancona bis nach Pescara, werden die Strecken holpriger und sind schlecht bis gar nicht ausgeschildert. „Manchmal hörte ein Weg einfach auf und ich musste über ein Feld laufen.“ Auch sorgt der Wanderer aus Germania zunehmend für größere Verwunderung. „In Süditalien hielten oft Autofahrer an und wollten mir zeigen, wo die Kirche ist. Die dachten, ich hätte ein Problem und bräuchte Hilfe.“
Es war auch die härteste Zeit seiner Wanderung: „Die Sonne brannte, es waren 40 Grad und ich fand keinen Laden zum Wasser kaufen“, erinnert er sich. Gut, dass er immer noch die eiserne Reserve in der Flasche hatte. In Pescara feiert er abends seinen 60. Geburtstag alleine mit einem guten Glas Wein, das darf bei ihm nicht fehlen nach einem beschwerlichen Wandertag. Da er sich hier nach 1000 Kilometern von seinen Wanderschuhen trennt, gönnt er sich ein neues Paar Laufschuhe. Nebenbei stellt er fest, dass er keine einzige Blase an den Füßen hat. Und noch etwas überrascht ihn: Er hat keine Rückenschmerzen, obwohl die Betten in den Hotels nicht immer die besten sind.
Bei Foggia biegt Giovane ins Landesinnere ab und erwandert Apulien über Ascoli Satriano nach Matera. Ascoli ist aus der Antike bekannt, dort soll ein gewisser Pyrrhus nach seinem Sieg über die Römer in der Schlacht bei Asculum 279 vor Christus einem Gratulanten gesagt haben: „Noch einen solchen Sieg über die Römer, dann sind wir vollständig verloren!“ Doch Luciano hatte so viele innere Schweinehunde besiegt, dass ihn nichts mehr aufhalten kann. Die letzten 300 Kilometer über Matera bis Altomonte schafft er ohne Probleme. Am 7. August kommt er in seinem Heimatort an, wegen Corona freilich ohne großen Bahnhof: Ein Dankesbesuch für göttlichen Beistand in der Kirche, eine Visite beim Bürgermeister und ein Glas Sekt mit Freunden und Familienmitgliedern.
So unspektakulär der Kraftakt zu Ende geht, so eindrucksvoll sprechen die Zahlen für sich: Die fast 1600 Kilometer hat er in 63 Tagen absolviert und davon sieben Tage pausiert. Im Schnitt hat er 30 Kilometer am Tag zurückgelegt, mehr, als er zuvor geplant hatte. Retour nimmt Luciano Giovane aber den Flieger. „Zwei Monate hin, zwei Stunden zurück“, sagt er in seiner unaufgeregten Art und lacht. Was er mitgenommen hat: „Die Begegnung mit so vielen Leuten hat mir geholfen, Sie hat meine Geschichte interessiert“, sagt er. Dabei gab es auch durchaus einige, die ihn für verrückt erklärt haben. „Die haben nicht verstanden, worum es geht: Den eigenen Kopf zu befreien, sich auf eine Sache fokussieren und seine Angst überwinden.“ Auf der Wanderung hat er viele Dinge geordnet. „Jeder, der so etwas macht, wird klar im Kopf und gesünder. Die Leute wollen nicht akzeptieren, wenn es ein Problem gibt, sie jammern lieber.“ Ganz nebenbei hat Luciano wandernd quasi ein Achtsamkeits-Seminar absolviert: „ Wir sind immer zu schnell unterwegs.“ Und deshalb will er es wieder tun: „Das nächste Mal würde ich nach Norwegen wandern, dann habe ich Europa von Süd nach Nord geschafft.“ Der Gedanke hilft ihm schon jetzt: „Wenn ich merke, dass ich nervös werde, schaue ich Richtung Norden.“