Weilheim. Gefeiert haben Albert und Ella Anselm ihre Trauung am 9. November 1958 im kleinen Familienkreis in Semipalatinsk, dem heutigen Semei am östlichen Rand Kasachstans. Die große Sause stieg dann in der Kolchose Kainar, 300 Kilometer von der Metropole entfernt, mit Wodka und einem ganzen Ochsen, der eigens zu diesem Anlass geschlachtet worden war. In dem Landwirtschaftsbetrieb verdiente Albert damals sein Geld, dort hatte er auch seine Ella kennengelernt, die aus der Stadt zur Aushilfe geschickt worden war. Dorthin brachte er seine frisch Angetraute auch wieder hin, im Kolchosen-Lkw. Durch die schneeverwehte Steppe ging es damals bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt. In Kasachstan wird es im Winter bis zu minus 40 Grad kalt. „Das war unsere Hochzeitsreise“, sagt der heute 88-jährige Albert Anselm lachend.
Große Reisen haben die beiden nie gebraucht, um glücklich zu sein. Ihre einzige größere und gleichzeitig bedeutendste war der Umzug nach Deutschland 1992. „Unsere Vorfahren sind Schwaben“, sagt Ella Anselm, die als Ella Klooz 1934 in Odessa auf der Krim geboren wurde. Ihre Urgroßeltern stammten aber aus Tübingen. Bis heute sprechen die beiden ein russisch eingefärbtes Schwäbisch. „Das hier ist unsere Heimat, und Gott wollte, dass wir nach Deutschland gehen“, sagt die Seniorin gerührt. „Zu Hause haben wir immer deutsch g‘schwätzt“, betont Ella Anselm, die als Hebamme und nach der Geburt ihrer eigenen Kinder als Putzfrau gearbeitet hat.
Dort, wo sie einen Großteil ihres Lebens verbracht haben, mussten sie sich stets mit einem Außenseiterstatus abfinden. „Mein Vater durfte nicht studieren, weil er Deutscher war“, erzählt Tochter Irene. Ein ganz ungefährliches Fleckchen Erde war der Wohnort der beiden auch nicht. Semipalatinsk war in der ehemaligen Sowjetunion ein wichtiges Testgelände für die Atombombe. „Ich habe damals den Atompilz gesehen“, erzählt Albert Anselm. „Die Explosion war nur 70 Kilometer entfernt. Aber wir hatten Glück, der Wind trieb die Wolke nicht in unsere, sondern in eine andere Richtung.“ Glücklich waren sie trotzdem, und das merkten auch ihre Kinder. „Ich habe meinen Vater nie schimpfen hören. Auch habe ich ihn nie betrunken erlebt“, erzählt Tochter Irene, die bei dem Interview mit ihren Eltern dabei ist. „Wenn Mama krank ist, sitzt ihr Mann neben ihr und streichelt ihre Hand“, sagt sie. „Immer einig sein, gut leben und viel sprechen“, nennt der Senior als Rezept einer guten Ehe. Klingt nach einem einfachen, aber erfolgreichen Rezept.
Dass ihr Vater entgegen der Landessitten nie getrunken hat, gilt als verbürgt, mit einer Ausnahme: Die Geburt des ersten Kindes Otto. Der stolze Vater hatte, wie es in Kasachstan üblich ist, die Anziehsachen der Mutter aus dem Krankenhaus abgeholt, sich aber in einer Pivomachka, einer russischen Bierschänke, ein paar Getränke gegönnt - und alle Sachen seiner Frau auf dem schwankenden Heimweg verloren. Ella lacht bei der Geschichte.
Es sind schöne Erinnerungen, aber aus einem anderen Leben. Seit das Ehepaar Anselm 1994 nach Weilheim gezogen ist, haben sie weder Russland noch Kasachstan wieder besucht. Für sie bestand schlichtweg keine Notwendigkeit. Sowohl die vier Geschwister von Albert als auch die neun Geschwister von Ella sind nach Deutschland gezogen. Ihre Kinder Otto, Irene und Waldemar leben in der Nähe. Mittlerweile hat das Paar sechs Enkelkinder und vier Urenkel. Mit denen wird am 9. November im Weilheimer Gemeindehaus gefeiert. Mehr brauchen die beiden nicht zum Glücklichsein. Thomas Zapp