Nach und nach füllt sich der Parkplatz am Neuen Friedhof am Dettinger Ortsrand in Richtung Käppele. Man kennt sich, es sind mehrere Wiesenbesitzer 60 plus aus Kirchheim darunter, die nicht zum ersten Mal einen Baumschnittkurs absolvieren. „Man kann immer dazulernen“, findet Hans Gläser, der „bestimmt schon 20 Mal dabei war“. Drei Wiesen voller Obstbäume nennt der Schreiner im Ruhestand sein Eigen. Etwas dazulernen? Dazu sagt auch Rainer Haas nicht nein. „Unsere Bäume sind erhaltenswert, altes Gehölz, Efeu und Misteln müssen raus, damit noch unsere Enkel an den Wiesen Spaß haben.“ Für ihn sei es obendrein ein Stück weit Tradition: „Mein Kulturgut von rund 10 000 Quadratmetern habe ich von meinem Opa geerbt.“ Elektriker Albert Rapp interessiert, was schnitttechnisch gerade aktuell ist, und haut raus: „Die Hälfte meiner Bäume sind verreckt vom Hagel.“ Tatsächlich sind auch drei Frauen dabei, unter anderem Martina Hommel, sie erzählt: „Anfang Februar habe ich nach meinem ersten Schnittkurs vorsichtig bei meinem Flieder angefangen, ich taste mich so langsam ran.“ An ihre Kirschen- und Zwetschgenbäume habe sie sich noch nicht herangetraut, „ich will nichts kaputtmachen“.
Genug geschwätzt, denn jetzt hat Anton Klein das Sagen. „Ich bin überwältigt, dass so viele gekommen sind“, begrüßt der Vorsitzende des Dettinger Obstbaurings die etwa 40 Anwesenden unterm heute im Fokus stehenden Apfelbaum. Anschließend lotet der Fachmann, der sein Wissen von Helmut Palmer hat, bei seinen „Schülern“ erst mal aus, warum man einen Obstbaum überhaupt schneiden soll. Höherer Ertrag, dass sie gesund bleiben, schöner aussehen, Licht und Luft bekommen – die Antworten kommen schnell und präzise. Scheinen ja lauter Profis hier zu sein. Ist allen der Vorteil klar, stellt sich für den einen oder anderen aber die Frage: Wie und wo setze ich die Astschere oder Säge an? Denn beim Obstbaumschnitt gibt es einige Grundregeln zu beachten.
Leiter war gestern, Anton Klein bleibt lieber standfest. „War ich früher fast zu 90 Prozent auf der Leiter, mach ich jetzt 80 Prozent vom Boden aus“, mit einem Hoch-Entaster und einer Schneidgiraffe, sowohl Kettensäge als auch Astschere besitzen eine Teleskopstange, die bis zu vier Meter ausfahrbar ist. Sicherheit beim Einsatz geben ihm die Handschuhe. Er verrät: „Sonst sind die Finger schnell offen.“ Nicht zu unterschätzen sei das Gewicht von fünf Kilogramm, das bei der Ausladung durch die Hebelwirkung auf 20 Kilo steigt. „Ich bin bestimmt nicht unterernährt, aber präzise halten und sägen, da ist man nach ein paar Stunden kaputt.“ Schlechte Erfahrungen habe er mit einer Zugsäge gemacht, „die wackelt und klemmt und hat mich tatsächlich am Arm erwischt. Danach war ich Patient im Krankenhaus.“
Überblick dauert Zeit
Anschaulich erklärt er jeden Schritt und Schnitt, die Oeschberg-Palmer-Methode, und macht seinem Publikum deutlich klar, was weg kann und was bleiben muss. „Ich will dem Baum nicht zu arg wehtun. Das Ziel ist, ihm seine Würde zu erhalten“, so Anton Klein, und er sagt ergänzend zum heutigen Vorführmodell: „Der ist bestimmt schon jahrelang nicht mehr geschnitten worden, so verwachsen, wie der ist.“ Etliche abgetragene Fruchtäste und senkrecht nach oben stehende Wasserschosser, gerne Idiotenknick genannt, ergeben einen Anblick, der dem Naturliebhaber in der Seele wehtut. Anton Klein betont: „Einen Ast, der oben drauf wächst, schneidet man nie weg. Denn auf der Schnittstelle bilden sich Wasserpfützen und das ist absolut tödlich.“ Überhaupt: „Manchmal muss man fünf Mal rumlaufen, bis man einen Plan hat.“
Hört der Großteil interessiert zu, haben sich mittlerweile Zweier- oder Dreiergrüppchen gebildet, die sich anderweitig unterhalten, einen Apfel kosten, den Hund springen lassen oder die Gegend erkunden. Und Anton Klein? Der erzählt, längst ausgestattet mit Helm und Sägmehlschutz, kontinuierlich weiter. Beantwortet jede Frage und zeigt die unterschiedlichen Äste und Schnittstellen. Wenngleich, gefragt wurde eigentlich gar nicht mal so viel. Inzwischen ist es richtig kalt und dunkler geworden, erste Regentropfen sind spürbar. Plötzlich entdeckt ein Kursteilnehmer eine Zweig-Ast-Konstellation, wo selbst der Experte und Baumstammläufer aus Dettingen sagt: „Eine strittige Frage, nimmt man dem Baum bis zu 40 Prozent weg, dann explodiert er buchstäblich.“ Abermals lernen die Teilnehmer: Ein Obstbaumschnitt ist ein langer Prozess, „lieber öfters und dafür weniger schneiden“.
Prima in Sachen Nachwuchs – auch ein junges Pärchen aus Dettingen hat sich mittlerweile dazugesellt. Der 20-jährige Noah Krampultz und die zwei Jahre jüngere Katharina Hermann haben, was einen Baumschnitt angeht, allerdings schon etwas Erfahrung, ebenso wie Rainer Hüttner aus Kirchheim, ein Rentner, der sich um die Obstbäume in der Kleingartenanlage Jesingen kümmert. Ingo Kreutzfeld, Mitglied des Obstbaurings, trifft den Nagel auf den Kopf, als er für den Erhalt der Streuobstwiesen plädierte und das Problem dabei umreißt mit den Worten: „Es vergreisen die Besitzer und die Bäume.“