Tötungsdelikt
Behörden wurden schon vor Jahren alarmiert

Der Vorwurf aus dem Umfeld des getöteten Luca S., die Behörden hätten nicht angemessen reagiert, wird durch neue Aussagen gestärkt. Auch ein Anwalt hatte die Polizei gewarnt. 

Rolf Seufferle vor den wenigen Andenken an seinen Sohn Luca, die aus der Brandruine gerettet werden konnten. Foto: Johannes Fischer

Die Polizei hatte weit mehr Hinweise auf die Absichten des mutmaßlichen Täters, der Luca S. in Esslingen getötet und das Haus angezündet haben soll, als bisher angenommen. Neben dem Vater des Opfers warnte auch ein Anwalt die Behörden, dass der Tatverdächtige schlimme Pläne verfolge. Es existiert ein Schreiben an die Polizei, in dem der Anwalt nicht nur vor dem Tatverdächtigen warnt, sondern auch darauf hinweist, dass sich Luca S. in Gefahr befinde. Eine Hausdurchsuchung, bei der die Tatwaffen – laut Polizei selbst gebaute Schusswaffen – hätten gefunden werden können, fand dennoch nicht statt. Auch die Akte des Tatverdächtigen wurde offenbar nicht gründlich gelesen oder ignoriert; denn eine Spurensuche in seine Vergangenheit zeigt: Er hatte offenbar schon vor 30 Jahren die Fantasie, Gebäude niederzubrennen.

 

Wenige Schritte von der Haustür zum Mülleimer waren nicht möglich. Er wartete schon.

Tochter der früheren Vermieterin über den Tatverdächtigen  

Am 14. November setzte der Tatverdächtige das Gebäude am Esslinger Kronenhof in Brand, in welchem der 76-jährige Vermieter Rolf Seufferle, dessen damals 31 Jahre alte Sohn Luca mit seiner Freundin, und eben er selbst als Mieter im Untergeschoss lebten. Außerdem befand sich eine Bäckerei im Haus. Nachdem der Tatverdächtige das Feuer gelegt hatte, richtete er wohl eine Waffe gegen Luca S. und anschließend gegen sich selbst; die Freundin rettete sich durch einen Sprung aus dem Fenster, Vermieter Rolf Seufferle konnte durch Einsatzkräfte vor dem Verbrennen bewahrt werden.

Anwalt wurde ebenso bedroht

Die Geschichte macht nicht nur Esslingen seit Wochen sprachlos. Auch Stefan Schnerr, Strafverteidiger aus Stuttgart, fragt sich, wie all das passieren konnte. Er hatte den Tatverdächtigen als Anwalt vertreten, als es noch um Räumungsklagen und Nachbarschaftsstreitigkeiten ging, bevor er sein Mandat niederlegte. Der Grund: Nachdem er vor Gericht 2023 einen Aufschub der Zwangsräumung erwirkt hatte, geriet er offenbar selbst ins Visier des mutmaßlichen Täters. „Noch draußen, direkt nach der Verhandlung, begannen die Beleidigungen“, erinnert sich Schnerr. Von da an bis zur Tat sei seine Kanzlei regelrecht terrorisiert worden, der Tatverdächtige habe seine Mitarbeiter ständig am Telefon beschimpft und bedroht. Bis zu 14 Mal täglich. Wiederholt habe er sich an die Polizei gewandt, erklärt Schnerr. Passiert sei so gut wie nichts. Vor allem ein Schreiben, mit dem sich der Anwalt Ende September an die Polizei wandte, lässt aufhorchen. Denn hier erwähnt Stefan Schnerr, dass auch Luca S. durch den mutmaßlichen Täter massiv bedroht worden sei. „Unmissverständlich“ habe Seufferles Mieter zu verstehen gegeben, dass er gegenüber Luca S. und auch Schnerr selbst Gewalt anwenden wolle. „Diese Drohungen nehme ich sehr ernst“, so der Anwalt weiter.

Demnach hatte die Polizei also nicht nur durch den Vater Hinweise auf die geplante Tat, der angab, zur Polizei gegangen zu sein, nachdem er von einem anderen Mieter seines Hauses von den Waffen erfahren habe. Unabhängig davon waren die Behörden auch kurz vor den Ereignissen von dem Stuttgarter Anwalt vorgewarnt gewesen.

Ein weiteres Schlaglicht auf den Fall werfen Begebenheiten, die sich bereits vor rund 30 Jahren ereignet haben sollen. Beim Trauermarsch für Luca S. Ende November in Esslingen kamen Fremde auf das Umfeld der Familie zu; Vater Rolf Seufferle selbst hatte nicht teilgenommen, emotional war ihm das nicht möglich gewesen. Die Fremden offenbarten sich als Ex-Vermieter des Tatverdächtigen, als dieser noch im beschaulichen, zu Wendlingen gehörenden Bodelshofen lebte. Sie erzählen Geschichten, die sich in den 90er-Jahren zugetragen haben sollen und alarmierende Parallelen zu den aktuellen Ereignissen aufweisen.

Laut dem heutigen Schwiegersohn der damaligen Vermieterin, der seinen Namen nicht preisgeben möchte, war die Wohnkonstellation damals eine ähnliche: Die Hausbesitzer lebten mit dem mutmaßlichen Täter im selben Gebäude. „Er ist vor dem Fenster mit einem Glasbehälter voll weißem Pulver herumgelaufen und hat gesagt: ‚Das müsste reichen’“, erinnert sich der Schwiegersohn, der brennbare Chemikalien in dem Behältnis vermutete.

„Jahre des Terrors“

Auch die Familie in Bodelshofen sei ständigen Beleidigungen ausgesetzt gewesen. Seine Frau, die Tochter der einstigen Vermieterin, erinnert sich: „Wenige Schritte von der Haustür zum Mülleimer waren nicht möglich, er wartete schon“, es seien „Jahre des Terrors“ gewesen. Außerdem erzählt sie von einem Grabstein vor dem Eingang des Mieters, „da stehen bald eure Namen drauf“, soll dieser zu der Familie gesagt haben. Den Vermietern sei erst gelungen, den Mann aus der Wohnung zu klagen, nachdem dieser der Tochter der Vermieterin gegenüber handgreiflich geworden sei.

Im Detail überprüfen lassen sich die Schilderungen der Vorgänge von damals zwar nicht. Aber die Drohung, das Haus niederzubrennen, musste sich auch Seufferle anhören. Besucher des Hauses „Am Kronenhof“, das nun eine Brandruine ist, berichten unabhängig voneinander ebenfalls von dem Mieter beleidigt und bedroht worden zu sein.

Ebenso wie der Anwalt aus Stuttgart soll auch seine Schwiegermutter nach eigentlich geregelten Angelegenheiten weiter von dem Tatverdächtigen übers Telefon belästigt worden sein, berichtet der Schwiegersohn der früheren Vermieter: „Der letzte Anruf kam drei Wochen vor der Tat.“ Der Mieter soll gesagt haben: „Wir sehen uns bald wieder.“ Der Schwiegersohn beschreibt den Tatverdächtigen als „tickende Zeitbombe.“ Auch Freunden des getöteten Luca S. war der Mieter nicht geheuer. Dort machte eine Tonaufnahme die Runde, in der der Mann von Kichern begleitet zu hören ist, wie er damit drohte, Luca S. und dessen Freundin früher oder später „mitzunehmen“.

Etliche Menschen haben Blumen und Kerzen am Absperrgitter des Brandhauses am Kronenhof abgelegt. Foto: Andreas Rosar

Dass Rolf Seufferles Mieter unter psychischen Krankheiten litt, geht aus einem Behandlungsbericht einer Klinik in Kirchheim hervor. In diesem wurde dem mutmaßlichen Täter paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Jahrelang sei er in einer Forensik behandelt worden. Auch von Bewährungsauflagen ist dort die Rede, ohne näher auf die Umstände einzugehen, die dazu führten. In dem Schreiben aus dem Jahr 2020 wird außerdem auf die Wichtigkeit sozialer Kontakte eingegangen, die einem Abgleiten in frühere paranoide Überzeugungen entgegenwirken könnten.

Staatsanwaltschaft ermittelt

Unterdessen beschäftigt sich weiterhin die Staatsanwaltschaft Heilbronn mit der Frage, ob mögliche Behördenversäumnisse vorliegen. Sie hat die Ermittlungen diesbezüglich aus Gründen der Objektivität übernommen. Die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft teilte auf Nachfrage mit, dass es hierzu keine neuen Erkenntnisse gebe, aber weiter ermittelt werde. Eine Prognose, wann es soweit sei, wollte sie nicht abgeben.

Rolf Seufferle kann sich nach wie vor nicht erklären, wie die Warnungen ignoriert werden konnten. Auf einem Tisch in seinem Büro liegen Postkarten, Fotoalben und Urlaubsbilder, die aus dem Brandschutt gerettet werden konnten. Sie sind alles, was Rolf Seufferle von seinem Sohn geblieben ist.