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Beleidigungen und Morddrohungen: Der Ton gegenüber Lokalpolitikern wird rauer

Krise Auch Bürgermeister aus der Region sind seit einiger Zeit das Ziel heftiger Angriffe in den sozialen Medien. Von Matthäus Klemke

„Unter Notwehr ausschalten, diesen Schwerstverbrecher“, – solche Kommentare auf Facebook gehören noch zu den harmloseren Anfeindungen, die sich in den vergangenen Tagen gegen Christof Bolay richten. Auch konkrete Morddrohungen hat der Bürgermeister aus Ostfildern erhalten.

Auslöser für die Hasskommentare, Drohbriefe und E-Mails war die Allgemeinverfügung, mit der die sogenannten „Montagsspaziergänge“ verboten werden sollten. Insbesondere eine Passage hatte für viel Empörung gesorgt: „Um sicherzustellen, dass das Versammlungsverbot eingehalten wird, wird die Anwendung unmittelbaren Zwangs, also die Einwirkung auf Personen durch einfache körperliche Gewalt, Hilfsmittel der körperlichen Gewalt oder Waffengebrauch angedroht.“ Im Netz entbrannten daraufhin hitzige Diskussionen, in denen sogar von einem „Schießbefehl“ die Rede war.

 

Ich war erst ein paar Tage im Amt, als ich meinen ersten Drohbrief bekam.
Dr. Pascal Bader
Oberbürgermeister von Kirchheim

 

Das Polizeipräsidium Reutlingen und die Stadt Ostfildern versuchten in einer gemeinsamen Pressemitteilung die Wogen zu glätten. Man habe lediglich darauf hingewiesen, welche Bandbreite zur Verfügung steht. „Der Einsatz der Schusswaffe zur Durchsetzung eines Versammlungsverbots ist ausgeschlossen“, heißt es in der Erklärung.

Geholfen hatte das nicht. Erschreckender Höhepunkt: Oberbürgermeister Bolay erhält Morddrohungen. Der OB selbst spricht von einer „Grenzüberschreitung“, die er in seiner 17-jährigen Amtszeit noch nicht erlebt hat. „In der Anonymität des Internets fällt es heute sehr viel leichter, zu kritisieren und auch zu drohen.“ Mittlerweile sei eine Phase erreicht, in der es für die Demokratie selbst bedrohlich werde, sagt Bolay: „Man muss sich nicht wundern, wenn es für solche Ämter immer weniger Bewerber gibt.“

Um sich solidarisch zu zeigen, haben die Oberbürgermeister aus Nürtingen, Esslingen, Kirchheim, Leinfelden-Echterdingen, Filderstadt, Ostfildern, Landrat Heinz Eininger und Michael Schlecht, Vorsitzender des Gemeindetags für den Kreisverband Esslingen, einen schriftlichen Appell an die Bevölkerung im Kreis gerichtet. Darin heißt es, dass es in Folge der unangemeldeten „Montagsspaziergänge“ zu mehr Hasskriminalität im Netz und Drohungen gegenüber haupt- und ehrenamtlichen Kommunalpolitikern kommt. „Das Recht auf freie Meinungsäußerung erreicht dort Grenzen, wo sachliche Kritik ausbleibt und stattdessen Beleidigungen, Hetze und Gewalt geäußert und angewandt werden“, heißt es in dem Schreiben. „Die Häufung und Schwere der Beleidigungen und Drohungen erreicht mittlerweile ein Niveau, das nicht mehr hinnehmbar ist.“

Einschüchterungsversuche nehmen zu

Pascal Bader ist während der Corona-Pandemie Oberbürgermeister in Kirchheim geworden. „Ich war erst ein paar Tage im Amt, als ich meinen ersten Drohbrief bekam“, erinnert er sich. Auch er sei mit dem Leben bedroht worden. Es sollte nicht das letzte Schreiben bleiben. „Es kommen immer wieder E-Mails oder es gibt Kommentare in den sozialen Medien“, sagt Bader. Dass Verwaltungsspitze und Mitarbeiter der Stadt beleidigt oder bedroht werden, sei kein völlig neues Phänomen. „In Kirchheim gab es auch schon vor Corona vereinzelt Einschüchterungsversuche über anonyme Schreiben an die Stadtverwaltung, die sich gegen Mitglieder der Verwaltungsspitze oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung gerichtet haben“, sagt Robert Berndt, Pressesprecher der Stadt Kirchheim. „Wir haben aber ebenfalls die Beobachtung gemacht, dass diese Einschüchterungsversuche seit Beginn der Corona-Krise zugenommen haben.“ Je nach Schwere der Drohung werden die Schreiben an die Polizei weitergeleitet und zur Anzeige gebracht. „Schreiben von Reichsbürgern werden gesondert behandelt“, sagt OB Bader. Hier sei besondere Vorsicht geboten.

Dass der Ton in der Corona-Pandemie aggressiver geworden ist, bestätigt auch Wendlingens Bürgermeister Steffen Weigel: „Die Hemmschwelle, jemanden zu beleidigen, ist niedriger.“ Lokalpolitiker seien oft die Sündenböcke: „Die Leute haben kein Verständnis für die Maßnahmen und geben uns die Schuld daran.“ Auch er sieht in der aktuellen Entwicklung eine Gefahr für die Demokratie: „Wenn jemand tatsächlich meint, dass eine Person ihr Recht auf ein Amt verwirkt hat, weil Entscheidungen getroffen wurden, die nicht jedem passen, dann zeugt das von einem geringen Verständnis von Demokratie“, so Weigel.

„Den knüpfen wir an der nächsten Laterne auf“

Wie es sich anfühlt, wenn man zur Zielscheibe von Hasskommentaren wird, weiß Gerhard Gertitschke, Bürgermeister von Neckartailfingen. Als die Gemeinde einem Rentnerpaar 2019 die Wohnung kündigt, um Geflüchtete darin unterzubringen, bekommt Gertitschke Hassbotschaften aus mehreren europäischen Ländern, auch in den sozialen Medien. „Da liest man dann so Dinge wie ,Den knüpfen wir an der nächsten Laterne auf‘.“

Auch wenn Gertitschke diese Erfahrung schon selbst machen musste – die Anfeindungen gegen seinen Kollegen aus Ostfildern hätten ihn „erschüttert“. Die Anzahl der Drohungen und Beleidigungen gegen Amtsträger haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, sagt Gertitschke. Das Internet biete dafür den passenden Rahmen. „In sozialen Medien ist es gesellschaftsfähig geworden, andere Personen zu beleidigen. Das Internet schafft die nötige Anonymität.“