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Bierhefe soll Fleisch ersetzen

Innovation Ein Start-up aus Ostfildern möchte vegane Produkte schmackhafter machen und mehr Menschen zum Fleischverzicht bewegen. Von Marion Brucker

24 Stunden sieben Tage die Woche Proteinpulver zu produzieren, das ist der Traum von Christoph Pitter, Michael Baunach, Tomas Kurz und Marco Ries. In ihrem Versuchslabor in Ostfildern testen sie zusammen mit drei Praktikantinnen sogenannte Clean-Label-Pattys. Praktikantin Nicola Lerch hat sie in einer Pfanne ausgebraten. Die drei veganen runden Teilchen enthalten einen unterschiedlichen Anteil an Proteinpulver aus Bierhefe. Damit sollen sie zusammengehalten und nicht im Geschmack beeinflusst werden. Stimmt der Biss? Baunach votiert für Nummer zwei, Studienfreud Pitter für Nummer eins. Auch die Praktikantinnen testen die Pattys. „Wir müssen Leuten ermöglichen, etwas zu essen, das gut schmeckt, auf das sie Bock haben“, erklärt Pitter. Und dazu gehörten das Mundgefühl beim Hineinbeißen und der Geschmack. Daran hapere es derzeit noch. Aktuell seien die meisten veganen Lebensmittel auf Pflanzenbasis mit Erbsen- und Sojaproteinen angereichert. Das gebe oft einen sandigen Geschmack. Deshalb würden Geschmacksverstärker eingesetzt. Dem wollen sie ihre Proteine aus Bierhefe entgegensetzen. „Unser vollständig natives Protein bietet die Vorteile von Proteinen auf tierischer Basis, ohne dabei Geschmack, Qualität oder Nährwert des Endprodukts zu beeinflussen“, schwärmt Pitter.

Abfallprodukt von Brauereien

Den Ausgangsstoff beziehen sie derzeit von größeren Brauereien in Deutschland, aber auch mit tschechischen und polnischen seien sie in Kontakt. Die Brauereien wollten normalerweise ihre Hefe loswerden, und dieses Abfallprodukt machen sich die vier Tüftler zunutze. Pitter geht aus der Versuchsküche in den hinteren Teil des Labors. Dort zeigt er den ersten Schritt ihres Produktionsprozesses. In einem Behälter wird die trübe Bierhefe gereinigt, sodass eine weißliche Flüssigkeit übrig bleibt. Der Rest ist Betriebsgeheimnis, das sie sich patentieren ließen.

Bis es so weit war, mussten sie immer wieder Rückschläge hinnehmen. Pitter erzählt, wie er 2018 während einer Weltreise auf die Idee kam, auf tierische Produkte zu verzichten, und in keinem Land etwas für sich Schmackhaftes fand. Aus dem Iran rief er schließlich seinen Studienfreund Baunach an: „Hey Michi, wir müssen eine effi­ziente Möglichkeit nutzen, mit Hefe Prote­ine herzustellen.“ „Chris, das kann nicht sein, dass das noch keiner macht“, meinte der Freund. Er recherchierte und fand außer eines in den 70er-Jahren in der damaligen UdSSR eingestellten Experiments für einen Fleischersatz nichts darüber.

Abends und am Wochenende getüftelt

Zurück in Deutschland steckte Pitter knapp ein Jahr in das Experiment, arbeitete unbezahlt, während Studienfreund Baunach neben seinem festen Job als Anlageningenieur abends und an den Wochenenden mit ihm im Labor stand. Zunächst probierten sie es mit Backhefe. Die war jedoch teuer. Und dazu wurde noch der angestrebte Forschungsantrag abgelehnt. „Die ersten Proben haben bei uns scheußlich geschmeckt“, erinnert sich Baunach. Schließlich gelang es im zweiten Anlauf Ende 2020, eine Grundfinanzierung in Kooperation mit der Hochschule Esslingen von rund 150 000 Euro zu erhalten. Mittlerweile haben sie ein Proteinpulver hergestellt, das unter anderem für Käse- und Fleischalternativen genutzt werden kann. 2024 sollen die ersten Lebensmittel damit auf den Markt kommen, sagt Pitter. Doch bevor es so weit ist, brauchen sie zunächst eine Anlage, in der sie 150 Tonnen Proteinpulver jährlich produzieren können. Das würde für bis zu 3000 Tonnen Lebensmittel reichen, rechnet er vor. Produziert werden sollen diese von Lebensmittelherstellern, denen sie das Proteinpulver verkaufen.

Um ihren Traum wahr werden zu lassen, benötigen sie im ersten Schritt rund 600 Quadratmeter Produktionsfläche. Am besten in der Nähe des Firmensitzes in Ostfildern, sagt Pitter. Noch aber haben sie nichts gefunden und sind deshalb außerhalb Baden-Würt­tembergs in einem strukturschwachen Gebiet im Gespräch. Dort gäbe es leichter Fördermittel, erklärt der 30-Jährige. Forschung und Entwicklung sowie der Verkauf sollen aber weiterhin am jetzigen Standort verbleiben.

Das Unternehmen und seine Idee

Team: 2018 experimentierten Christoph Pitter, 30, und Michael Baunach, 34, erstmals mit Hefe als Proteinersatz. Beide verfügen über einen Bachelor of Engineering, Pitter zusätzlich über einen Master als Wirtschaftsingenieur und Baunach über einen Master of Science in industrieller Biotechnologie. Als sie sahen, dass sie weitere Expertise in Lebensmitteltechnologie benötigten, holten sie Tomas Kurz mit an Bord. Der 52-Jährige hat Brauwesen und Getränketechnologie studiert und war unter anderem Professor für Lebensmittelverfahrenstechnik an der TU Berlin. Er stieß 2021 dazu. Gemeinsam gründeten sie die ProteinDistillery GmbH. Marco Ries, 28, hat einen Master of Finance und ist seit 2022 wie Pitter Geschäftsführer. Derzeit haben die Unternehmer unter den knapp 20 Mitarbeitenden acht Vollzeitkräfte. Bis Ende 2023 wollen sie sechs weitere einstellen.

Finanzen: Umsatz erzielt das Unternehmen derzeit durch Entwicklungskooperationen mit Lebensmittelherstellern. 2026 will es schwarze Zahlen schreiben, wenn die große Anlage für die Proteinpulverherstellung steht.

Zielgruppe: Mit ihrem Produkt wollen die vier die 55 Prozent Flexitarier über das Business-to-Business-Geschäft erreichen. Das sind Menschen, die gelegentlich bewusst auf Fleisch verzichten. Der Anteil von Vegetariern betrug dagegen laut einer Forsa-Umfrage von 2020 nur fünf Prozent, von Veganern ein Prozent.

Auszeichnungen: ProteinDistillery hat verschiedene Preise gewonnen: den Deutschen Nachhaltigkeitspreis, Vision Award, Innovationspreis Bioökonomie des Landes Baden-Württemberg, Innovate! German Food Startup Award und Gewinner des Nordpreneur Wettbewerbs. mb