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Biodiversität – eine Frage der Haltung

Natur Experten sind sich einig: Für den Erhalt der biologischen Vielfalt braucht es mehr Weiden und vor allem ganz unterschiedliche Arten von Weidetieren in der Landschaft. Von Daniela Haußmann

Über Jahrhunderte hinweg haben Bauern auch rings um die Teck Flächen in Wald und Offenland als Weiden genutzt. So entstand ein vielfältiges Mosaik aus Lebensräumen, in denen zahllose Pflanzen und Tiere eine Heimat fanden. Doch mit Beginn der Industrialisierung in der Landwirtschaft verschwanden ab Beginn des 20. Jahrhunderts und ver­stärkt ab den 1950er-Jahren Weidetiere vielerorts aus der Landschaft. Die Folge: ein massiver und bis heute spürbarer Rückgang im Biotop- und Artenspektrum. Allein der Dung der Tiere bietet zahlreichen Insekten wie dem Mistkäfer Nahrung, Lebensraum und eine Entwicklungsstätte für den Nachwuchs. Von den Insekten wiederum ernähren sich Vögel, Fledermäuse und viele andere Arten, so Karl Ederle.

Rinder sind Feinschmecker

Der Öko-Landwirt bewirtschaftet mit seinen Galloway-Rindern seit circa 25 Jahren in naturnaher Weidehaltung Wiesen in Bissingen. Die halten nicht nur die Landschaft offen. Genau wie andere Weidetierarten, wie Ziegen, Esel, Schafe oder Pferde, schaffen auch sie ökologische Nischen für andere Arten. Nicht nur mit ihrem Kot, sondern auch durch das für ihre Art typische Weideverhalten, wie Scharren, Wälzen, Treten, Verbeißen oder Scheuern, und auch durch ihre Nahrungspräferenzen. Die Pflanzenauslese ist Ederle zufolge der Grund für die spezifische Artenvielfalt auf beweideten Flächen. Dabei beeinflussen Anatomie und Fressverhalten der einzelnen Nutzvieharten unter anderem die Artenzusammensetzung der Pflanzengemeinschaften.

„So beißen Rinder beispielsweise ein Büschel nicht sauber ab, sondern reißen es mit der Zunge ab“, sagt Ederle. „Sie meiden stachlige, bitter schmeckende und hartlaubige Pflanzen.“ Dafür verbeißen Ziegen den Pflanzenbestand sehr tief und bevorzugen etwa Blätter, Schösslinge und junge Triebe von Gehölzen. Damit wirken die jeweiligen Vieharten anders auf die Biodiversität. Um ein breites Biotop- und Artenspektrum zu fördern, braucht es für Karl Ederle und Fachleute vom Landwirtschaftlichen Zentrum (LAZBW) Baden-Württemberg mehr Weiden und Nutzvieharten in der Landschaft. Pflanzenfresser können auch gemeinsam oder im Wechsel auf den Flächen stehen. Sorgen, dass es dadurch zu einem erhöhten Parasitenbefall kommt, seien unbegründet, denn Parasiten, die über mehrere Tierarten hinweg aktiv sind, seien – von Zecken abgesehen – extrem selten.

Weidevieh als Taxi

Außerdem verteilen die Pflanzenfresser an Fell, Hufen, Maul und durch ihr Verdauungssystem mit dem Kot Samen von Pflanzen in der Landschaft, heißt es in einem von der baden-württembergischen Umweltakademie herausgegebenen Weideband mit dem Titel „Weiden – Wege zur Bewahrung der Biodiversität“. Demzufolge nutzen auch Spinnen, Heuschrecken, Käfer und Schnecken die Tiere als „Taxi“. Weidetiere fördern damit die Ausbreitung von Arten. Um deren Vorkommen auf Landschaftsebene zu stabilisieren, braucht die Beweidung mehr und größere Flächen, wie es in dem Buch heißt, das Fachaufsätze verschiedener Experten enthält. Auch deshalb versucht Karl Ederle in Bissingen Grundstückseigentümer zu finden, die ihm ihre Obstwiesen zur Verfügung stellen. Viele von ihnen werden kaum oder gar nicht mehr bewirtschaftet und wachsen zu. Das hat zur Folge, dass rund 5000 Arten, die in den Streuobstbeständen zu Hause sind, ihren Lebensraum verlieren. Seine Rinder könnten die Flächen offen halten.

Für LAZBW-Experte Marcus Schlingmann ist eine Neuorientierung im Naturschutz nötig, die Schlüsselakteure, die für die ökologische Entwicklung der Kulturlandschaft wichtig sind, stärker einbindet. So zum Beispiel Landwirte, Kommunen oder Wasserwirtschaft. Projektlaufzeiten im Naturschutz würden oft nur wenige Jahre umfassen, Bauern hingegen bewirtschafteten ihre Flächen über Jahrzehnte und könnten so langfristiger die Biodiversität mitgestalten. Davon könne der Naturschutz profitieren. Dazu müsse aber auch eine ökologisch nachhaltige und standortangepasste Weidetierhaltung stärker und besser in den Förderrahmen nationaler und europäischer Agrarpolitik integriert und Landwirten der ökologische Umstieg erleichtert werden.

 

Drei Fragen an Karl Ederle

Wie wird sichergestellt, dass Weidetiere ausreichend Futter finden?

Jede Weide braucht ein Management. Dazu gehört, dass die Halter wissen, wie viel Gras ein Hektar Fläche hergibt. Dabei spielen Faktoren wie Pflanzenbestand, Jahreszeit, Regen, Höhenlage, Klima oder Bodenbeschaffenheit eine Rolle. Diese Infos ergeben, wie groß eine Weidefläche sein muss, um eine Herde ausreichend mit Nahrung zu versorgen. Grundsätzlich gilt aber, dass das Auge des Herren das Vieh mästet. Das heißt: Als Halter muss man alles im Blick haben und situativ reagieren.

Sind ­diese Standort­daten wichtig für eine ökologisch nachhaltige Bewirtschaftung?

Daten über die Futterdichte zeigen, wie sich die Vegetation regeneriert. Diese Informationen verhindern beispielsweise, dass zu intensiv oder zu wenig beweidet wird und wie viele Tiere ein Standort verträgt. Kenntnisse über den Standort zeigen auch, welche Vieharten und -rassen am besten geeignet sind, um bestimmte Naturschutzziele zu erreichen. Eine Beweidung muss grundsätzlich standortangepasst erfolgen, um Schäden für Natur und Tier zu vermeiden.

Verbessert eine extensive, standortangepasste Weidehaltung die Öko-Bilanz tierischer Produkte?

Die Ökobilanz in der Milch- und Fleischerzeugung aus extensiver Ganzjahresbeweidung weist gegenüber intensiv wirtschaftenden ­Betrieben einen deutlich geringeren CO₂-Fußabdruck auf. Zudem pflegen die ­Weidetiere das Ökosystem, ­fördern auch die ­Artenvielfalt und unterstützen die Nutzung von Graslandschaften für die mensch­liche Ernährung. So trägt das Ganze zur Ökologisierung des gesamten Ernährungs­systems bei. dh