Allein auf einer einzigen Wiese haben wir elf Kitze gerettet“, berichtet Martin Wahl. Auf die Worte des Bissinger Jägers folgt aufgeregtes Getuschel. „Elf Kitze!“, wiederholen vereinzelte Stimmen beeindruckt, gefolgt von erstaunten Ausrufen. Wie hoch diese Zahl ist und wie viel Arbeit dahintersteckt, das haben die anwesenden Bissingerinnen und Bissinger in den vergangenen Monaten gelernt.
Im April hatten die Jäger der Bissinger Reviere im Mitteilungsblatt dazu aufgerufen, die Jäger bei der Suche nach Rehkitzen zu unterstützen. Mit einer Drohne und einer Kamera, die ein Wärmebild vom Boden an den Bildschirm liefert, haben sich die Gemeinde und die Jäger ausgerüstet. Ziel ist es, die Kitze aus dem Gras zu tragen, bevor die Landwirte die Wiesen mit großem Gerät mähen. Doch Zeit und Manpower sind ein knappes Gut. Die Kitze müssen aus dem teilweise brusthohen Gras getragen und einige Wiesen wie früher mit einer Menschenkette durchsucht werden. Deshalb setzen die Jäger auf die Unterstützung der Bissinger Bürgerinnen und Bürger.
Der Erfolg sprengte die Erwartungen der Waidmänner. 25 Bissingerinnen und Bissinger unterstützten das „Modellprojekt Bissingen“. Dass die Männer in der Gruppe in der Unterzahl sind, überrascht nicht: „Das ist doch klar bei so einer Babyrettung“, erklären die Bissingerinnen.
„Tempo ist das A und O: Passt das Wetter, wollen alle Bauern gleichzeitig mähen“, erklärt Martin Wahl. Die Suche muss früh losgehen – je kälter die Umgebung noch ist, desto deutlicher zeichnen sich die warmen Körper der Wiesenbewohner ab.
„Morgens um vier aufstehen – das ist nicht vergnügungssteuerpflichtig. Aber wenn dann die Sonne aufgeht: Das ist eine ganz tolle Morgenstimmung“, berichtet Gabi Goebel und findet, dass sie ihre Heimat durch die Aktion besser kennengelernt hat: „Ich bin in Bissingen geboren – aber jetzt habe ich ein paar Wiesen entdeckt, da war ich noch nie.“
Das hohe Gras nach den Kitzen zu durchforsten, ist sehr anstrengend, berichtet Gabi Goebel. „Ich hatte immer eine Regenhose an – manchmal war es schon saukalt.“ Mitstreiterin Wilma Sept erinnert sich: „Ich habe Gummistiefel oder Wanderschuhe getragen. Wir waren dann zwei Stunden unterwegs und sind von Wiese zu Wiese.“ Wilma Sept war es auch, die das erste Kitz gefunden hat. „Ich bin zu einem hohen Baum gelaufen – da lag etwas Kleines. Erst dachte ich, das ist ein Stein, aber dann bin ich näher hin“, berichtet die Bissingerin mit leuchtenden Augen. Das kleine Kitz hatte noch keinen Fluchtreflex – nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn es niemand gefunden hätte.
Innerhalb weniger Minuten entdeckt Hansjörg Richter das zweite Kitz. Der Bissinger ist ganz aus dem Häuschen, knipst Fotos und darf das Tier sogar aus seiner misslichen Lage tragen. Dabei beachtet er penibel die Sicherheitsmaßnahmen, damit Mama Reh ihren Nachwuchs nach der Aktion wieder annimmt. „Das Kitz war so leicht“, berichtet er freudig und fügt mitfühlend hinzu: „Es war doch auch verängstigt, hat Kopf und Beine hängen lassen und war völlig ausgeliefert.“
Hansjörg Richter und der Bissinger Jäger Hanns Aberle legen das kleine Reh vorsichtig in einen Karton. „Dort bleibt es, bis die Wiese gemäht wurde. Aus Tierschutzgründen liegt das Kitz höchstens zwei Stunden lang im Karton“, erklärt Hanns Aberle. Nachdem die Wiese gemäht wurde, werden die Kitze wieder in die Freiheit entlassen. Manchmal erleben die Jäger sogar, wie sich Mutter und Kind wieder treffen.
Die kleine Gruppe der Bissingerinnen und Bissinger ist voller Tatendrang. Auch nächstes Jahr wollen viele von ihnen wieder dabei sein. „So eine Gemeinschaft findet sich nicht in jeder Gemeinde – das kann man aber auch nicht erwarten“, sagt Helmut Ollhäuser beeindruckt.
Jäger freuen sich über erfolgreiche Saison
Fast 34 Stunden waren die Bissinger mit der Drohne unterwegs. Insgesamt 196 Mal ist die Drohne in die Luft gestiegen. Systematisch ist Martin Wahl mit seinem Fluggerät die Wiesen abgeflogen. In einer Saison hat die Drohne so rund 273 Kilometer zurückgelegt. Hinzu kommen noch ein paar Wiesen, die zu Fuß durchkämmt wurden. Dabei wurde die Rettungsaktion von etwa 25 Bissinger Bürgerinnen und Bürgern unterstützt.
30 Kitze konnten in diesem Jahr aus den Wiesen getragen oder verscheucht werden. Besonders zu Beginn der Aktion waren die Kitze noch so klein, dass sie nicht davonliefen. Dennoch sind drei Kitze bei Mäharbeiten gestorben. Das ist zwar eine schlechte Nachricht, in den Jahren vor dem Einsatz der Drohne wurden im Schnitt zehn Kitze pro Jahr getötet. „Zufrieden sind wir erst, wenn wir bei null landen“, betont Hanns Aberle.
Drei Reviere gehören zur Gemeinde Bissingen, die von ortsansässigen Jägern gepachtet wurden: Bissingen-West, Bissingen-Ost und Ochsenwang. Für die Kitzrettung spielen die Reviergrenzen keine Rolle: Egal wo die Mahd anstand, die Jäger haben sich immer unterstützt und freuen sich über die Ehrenamtlichen. In der nächsten Saison könnten sie mit einem zusätzlichen Drohnenpiloten noch effizienter werden.
Schon aus Gründen des Tierschutzes müssen die Landwirte Maßnahmen ergreifen, um Kitze nicht bei der Mahd zu töten. Rechtzeitig die Jäger zu informieren, ist da noch einfach. Einer der Bissinger Bauern hat zusätzlich einen piependen „Wildvergrämer“ – ähnlich einem Marderschreck – an seine Mähmaschine angebracht. Je später gemäht wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Kitze bereits einen Fluchtreflex haben. kd
(Zahl: 273 Kilometer hat die Drohne der Bissinger Jäger zurückgelegt. Bei der Aktion konnten 30 Kitze aus den Wiesen getragen oder gescheucht werden, bevor die Landwirte mit großen Mähmaschinen ihrer Arbeit nachgingen. kd)