Gleich in der Nachbarschaft des Umspannwerks herrscht Anspannung bei Fabian Klingenfuß, dem Prokuristen des Edeka-Markts. Im Inneren ist alles dunkel, vor dem Eingang halten Mitarbeiter Einkaufswillige vom Zutritt ab. Abkassieren geht nicht mehr, die Registrierkassen stehen still, die Kundschaft muss nach Hause geschickt werden. Nach der Generalsanierung verfügt der Markt für frische Ware durchweg über geschlossene Truhen und Regale. „Die Ware wird noch eine Zeit lang halten, ohne Schaden zu nehmen“, sagt der Prokurist, der aber dennoch hoffen muss, dass der Schaden schnell behoben sein wird. Denn ein Notstromaggregat, wie einst der Real-Markt dort hatte, gibt es nicht mehr.
Die Medius-Klinik auf dem Nürtinger Säer verfügt dagegen über solche Aggregate. „Die sind nach der Routine des Notfallprogramms auch angesprungen“, bestätigt Klinikdirektor Norbert Nadler. In ganz sensiblen Bereichen, zum Beispiel für Beatmungsgeräte und andere lebenserhaltende Systeme, gebe es über einen Batteriebetrieb noch eine zusätzliche Absicherung, bis die Notstromaggregate am Laufen seien. Am frühen Abend habe man wieder Netzstrom gehabt, vor Inbetriebnahme der Geräte seien sie von Technikern überprüft worden. An zwei Geräten sei es vermutlich zu Schäden gekommen.
Frau muss in Nürtinger Rathaus aus Fahrstuhl befreit werden
Unterdessen muss die Nürtinger Feuerwehr zu zwei Firmen ausrücken. Durch den Stromausfall wurden die Brandmeldeanlagen ausgelöst. Auch im Rathaus wird Alarm ausgelöst: Eine ältere Frau muss aus einem Fahrstuhl befreit werden. „Wir haben den Krisenstab einberufen“, sagt OB Johannes Fridrich, der eigentlich schon auf dem Weg zur feierlichen Übergabe der neuen Bodelschwinghschule war. Erst neulich habe man den Ernstfall geprobt. Die Kontaktaufnahme zur Polizei gestaltete sich schwierig: „Wir haben dann einen Boten geschickt.“
In der Nürtinger Innenstadt ist die Stimmung gegen 16 Uhr überwiegend noch gelassen. In den Geschäften schwankt man zwischen schließen und weitermachen so gut es eben geht. Viele Mitarbeiter stehen vor ihren Läden. Allerorten herrscht Rätselraten, was wohl die Ursache des Stromausfalls ist. Christiane Ahlgrimm und Ursula Recke von der Buchhandlung Zimmermann lassen weiter Kunden herein, die etwas Bestimmtes suchen.Voraussetzung ist allerdings, dass sie bar bezahlen können, denn die Kartenlesegeräte funktionieren nicht mehr. Ursula Recke leuchtet den Kunden schon mal mit einer batteriebetriebenen Lampe in die dunkleren Ecken des Geschäfts.
Schräg gegenüber beim Café Zimmermann sitzen weiterhin Leute drinnen und auch draußen. Es gibt handgebrühten Filterkaffee, sagt Inhaber Horst Bauer: „Den können wir noch machen. Cappuccino oder Latte Macchiato freilich nicht mehr.“ Sollte der Ausfall länger dauern, werde er seine 80 Jahre alte Filter-Kaffeemaschine reaktivieren, bei der das Wasser noch von Hand eingegossen wird. „Die war beim letzten langen Stromausfall auch im Einsatz“ berichtet er. Den Teig, den er gerade noch in den Ofen geschoben habe, als der Strom wegblieb, könne er allerdings vergessen, „wenn es noch länger als eine halbe Stunde dauert“, sagt er.
Anderson Ronsoni, Chef der Eisdiele „Da Claudio“, hat seinen Laden nach dem Ausfall der Kühlung zwangsläufig zugesperrt und sitzt mit seinen Mitarbeitern im leeren Café. Die Eisbehälter sind leer geräumt. „Wir haben einen Spezialkeller“, erzählt er. Fünf bis sechs Stunden könne man das Eis dort lagern, dann allerdings sei es hinüber.
Barzahlen ist auch in der Apotheke Horch angesagt. Es kommen nach wie vor Kunden ins Geschäft. Rezeptpflichtige Medikamente könnten allerdings nicht mehr ausgegeben werden, schüttelt Mitarbeiterin Vivian Horch bedauernd den Kopf. Denn dazu müsse sie im Computer nachschauen, zum Beispiel, was die Krankenkasse ihr vorgebe.
Wohl dem, der also noch Bargeld hat. Denn auch die Geldautomaten funktionieren nicht mehr. „Da sieht man mal, wie abhängig wir von Strom sind“, sagt eine Passantin.
Im Restaurant von Christer Belser herrscht in der Küche auch am Mittwochnachmittag geschäftiges Treiben. Ein paar Batterielampen verstärken das spärliche Tageslicht. Es wird weiterhin geschnippelt und vorbereitet. „Wir kochen mit Gas“, sagt Christer Belser. Solange es vom Licht her gehe, mache man daher auf jeden Fall weiter, um die abendlichen Gäste bewirten zu können – in der Hoffnung, dass die Störung bis dahin behoben sein wird. Notfalls stünden Kerzen bereit, so der Restaurant-Chef mit einem Schmunzeln.
Zugverkehr wurde ausgebremst
Bei der Vorbeifahrt an der Jet-Tankstelle in der Innenstadt sind Hütchen zu sehen, mit denen die Zufahrt gesperrt ist, tanken geht nicht mehr. Am Nürtinger Bahnhof steht der voll besetzte Zug nach Tübingen bereits seit 20 Minuten auf Gleis eins, die Fahrgäste sind rat- und ahnungslos, aber meist noch geduldig. Der Zugführer bekam zunächst keinen Kontakt über Handy, dann aber doch eine Verbindung. Das Problem: Für den Zug hat er aus der unabhängigen Oberleitung zwar Strom, sagt er. Doch das Ausfahrtsignal steht auf Rot. Dann kommt die Nachricht, dass er es dennoch überfahren und seine Fahrt bei langsamem Tempo mit höchstens 40 Stundenkilometer auf Sicht fortsetzen darf. Nach 17 Uhr noch ist indes vom Bahnhof Tübingen zu hören, dass der Verkehr nicht normal läuft.
Anarchie auf den Straßen
Doch wer mit dem Auto unterwegs ist, kommt auch nicht viel schneller voran. Auf kaum einer Straße wird der Verkehr von Polizisten geregelt. Anarchie herrscht an der Kreuzung zur Stadtbrücke. Wegen der ausgefallenen Ampel regelt das Recht des Stärkeren den Verkehr. Ein ähnliches Bild an der Metzinger Straße.
Gegen 17 Uhr gehen die Lichter wieder an. Auch für die Ursache des Stromausfalls gibt es erste Erklärungen. Laut Michael Klesse, Abteilungsleiter für die Stromversorgung bei den Nürtinger Stadtwerken, sind zwei Schalter im Umspannwerk des überörtlichen Versorgers EnBW durchgebrannt. Wahrscheinlich sei, dass es zu einem Erdschluss an einem Überlandkabel gekommen sei, etwa weil etwas damit in Berührung gekommen sei. Die enormen Stromflüsse brachten die Schalter zum Brennen, es sei zu einer automatischen Abschaltung gekommen. Nachdem auf Notsysteme umgestellt wurde, konnten Stadtteile nur schrittweise wieder zugeschaltet werden, um das Netz nicht gleich wieder zu überlasten. nz