Wernau. Läuft alles wie vorgesehen, dann wird im November 2022 ein Kapitel der Wernauer Stadtgeschichte nicht mehr länger im Dunkeln liegen. So zumindest sieht es ein Konzept vor, mit dem die Zeit vor, während und unmittelbar nach der Nazidiktatur aufgearbeitet werden soll. Mit der Umsetzung des Projekts, an dessen Ende ein mindestens 60 Seiten starkes Heft stehen wird, hat der Gemeinderat Steffen Seischab betraut.
Der Nürtinger Historiker, der in seinem Hauptberuf als Lehrer am Otto-Hahn-Gymnasium in Ostfildern-Nellingen arbeitet, „ist ein absoluter Experte für die NS-Zeit in unserer Gegend“, erklärt der Esslinger Kreisarchivar Manfred Waßner. Ihn hatte die Stadt mit der Suche nach einem Fachmann, der dieser heiklen Herausforderung gewachsen ist, beauftragt. Und in der Tat hat Seischab schon in anderen Kommunen der Altkreise Esslingen, Nürtingen und Kirchheim ähnliche Vorhaben umgesetzt. Dass dieser Schritt nun auch in Wernau vollzogen wird, bezeichnete Waßner als „dringend“. „Die Jahre von 1933 bis 1945 wurden in den bislang vorhandenen Publikationen ausge- blendet“, sagt er.
Zugleich machte der Kreisarchivar deutlich, dass eine methodisch saubere Aufarbeitung auch die Zeit drum herum mit einbeziehen müsse. „Viele Personen waren ja davor und danach die gleichen.“ Drei Punkte sind für Waßner wesentlich: „Es muss nicht zuletzt um den Alltag der Menschen gehen, den das Regime ja komplett besetzt hat. Dabei hat es Täter und Opfer gegeben, allerdings ist die Wirklichkeit selten schwarz oder weiß, sondern meist grau.“ Dass das Bild - fast ein Jahrhundert später - dennoch stimmig ausfallen werde, davon gehe er fest aus. „Was uns verloren gegangen ist, weil Zeitzeugen oft nicht mehr leben, ist durch eine große Zahl an Quellen durch jetzt geöffnete Archive hinzugekommen.“
Steffen Seischab sieht das genauso. „Das Projekt in Wernau reizt mich ungemein, weil sich dabei ein ganzer Fundus an Fragen stellt“, betont der Historiker. Und obwohl er den Blick von außen habe, wolle er natürlich die Expertise von Wernauer Bürgerinnen und Bürgern, aber auch von Fachleuten nutzen, die in dem Thema drin seien, macht Seischab seine Vorgehensweise deutlich.
Immer wieder war von verschiedenen Seiten zuletzt gefordert worden, den ausgewiesenen Spezialisten Gerhard Hergenröder in den Aufarbeitungsprozess mit einzubinden. Dieser hatte engen Kontakt zum damaligen katholischen und vor allem NSDAP-kritischen Pfarrer Ernst Hofmann. Hergenröder kennt dessen Nachlass, unter anderem die dramatischen Schilderungen aus Feldpostbriefen von Wernauer Soldaten. Für Seischab steht zudem fest, „dass in die Übersicht alle typischen Themen reingehören, schon beginnend mit der Weimarer Republik und ohne 1945 Schluss zu machen, also auch die Nachkriegsjahre zu beleuchten“.
Vorgesehen ist deshalb, einen Blick auf Pfauhausen und Steinbach zu werfen, auf den Weg der Gemeinden in den NS-Staat und die dabei vorhandenen Konflikte. Der Zusammenschluss der beiden Kommunen soll ebenfalls beleuchtet werden. Wichtige Themen werden zudem das politische Milieu im Ort zwischen 1933 und 1939, selbstverständlich die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Entnazifizierung sein. Die Kosten für das Projekt betragen rund 26 000 Euro. Andreas Pflüger