Zwischen Neckar und Alb
Bomben, Schnaps und heiße Köpfe

Landratsamt Er hat Attentate, politische Gefechte und so manchen Sturm erlebt: Nach der letzten Kreistagssitzung gehen im Verwaltungssitz am Neckar endgültig die Lichter aus.
Von Bernd Köble

Anfangs war es nicht viel mehr als ein umstrittenes Symbol. Spielplatz für das ungeliebte Kind aus einer Zwangsehe, das nach heftigsten Geburtswehen am 1. Januar 1973 zur Welt kam. Gewaltig im Ausmaß, weithin sichtbar und mit fast 48 Millionen D-Mark für damalige Verhältnisse auch finanziell ein ziemliches Schwergewicht. Von der Geburtsstunde des Großkreises Esslingen nach der umstrittenen Kreisreform bis zur Einweihung des neuen Landratsamtes am 24. Februar 1978 ging einige Zeit ins Land. Jahre, in denen aus zwei Verwaltungen der Altkreise Nürtingen und Esslingen eine schlagkräftige Einheit geformt werden musste. Bis dahin hatten sich die Ämter und Dienststellen der neuen Behörde auf 25 verschiedene Standorte verteilt. Die Mietkos­ten summierten sich auf damals stattliche 150000 Mark im Jahr. Die neue Verwaltungszentrale am Neckar galt nun als zentrale Lösung, als ein Bau der Moderne mit Großraumbüros, mehr als 250 Dienstzimmern, einheitlich gestaltet, in einer Zeit, als herkömmliche Hierarchien zu bröckeln begannen. Der damalige Landrat Hans Peter Braun beschrieb den neuen Amtssitz am Tag der Einweihungsfeier in der benachbarten Neckarhalle so nüchtern, wie es der politischen Stimmung angemessen war: „eine ansprechende Arbeitsstätte und kein Beamten-Silo“.

Das ist 44 Jahre her, und jetzt ist Schluss. Die letzte Sitzung des Kreistags an alter Stätte war am Donnerstag der finale Akt von offizieller Seite. Am Freitag überließ man das Feld den Mitarbeitern bei einer rauschenden Abriss-Party. Der letzte machte das Licht aus. Handwerker sind längst dabei, den Bau zu entkernen. Im Herbst rollen die Bagger an. 2026 soll der 144 Millionen Euro teure Neubau an selber Stelle bezogen werden und damit auch die jahrelang herrschende Raumnot Geschichte sein. Immer neue Aufgaben und Zuständigkeiten haben die Zahl der Mitarbeiter seit den 70er-Jahren von rund 800 auf heute 2300 anwachsen lassen.

Ein denkwürdiger Tag in denkwürdigen Zeiten, an dem der Kreis noch einmal Flagge zeigte: Neben den Fahnen von Land und Kreis flatterten auch die Farben der Ukraine am Mast vor dem Eingang, während drinnen die wachsende Zahl an Kriegsflüchtlingen und die Suche nach Notquartieren die politische Agenda beherrschten. Vergangenheit und politische Gegenwart spiegelten sich auch in den Gesichtern der mehr als 20 Kreispolitikerinnen und -politikern vergangener Jahrzehnte, die der Einladung zur letzten Sitzung an ihrer früheren Wirkungsstätte gefolgt waren. Darunter besonders langjährige Mitglieder des Kreistags wie die Sozialpolitikerin Solveig Hummel (SPD) oder Helmut Schumacher (FDP), die nach ihrem Ausscheiden für 27 und 15 Jahre Mitgliedschaft im Gremium gewürdigt wurden. Ein Anderer durfte sich über ein seltenes und wohl auch nicht ganz satzungskonformes Privileg freuen: Für den früheren SPD-Landespolitiker Wolfgang Drexler, Ehrenbürger der Stadt Esslingen und über ein halbes Jahrhundert wortgewaltiger Redeführer im Kreistag, schloss sich mit der Verleihung der Großen Goldenen Ehrenmedaille des Landkreises am Donnerstag ein Kreis. Drexler hatte als Abgeordneter den Bau 1971 mit auf den Weg gebracht und saß nun letztmals im Saal. Ihm gab Landrat Heinz Eininger ein „lebenslanges Recht auf Zwischenrufe“ mit auf den Weg in den politischen Ruhestand. Er gehe davon aus, dass Saalverweise dabei auch künftig ausgenommen seien, stellte Drexler trocken fest, während Eininger konterte: „Die Altersmilde erreicht vielleicht auch Sie noch.“

Mülldebatte und Klinikstreit

Aufgeheizte Debatten gab es zwischen moosgrünem Flor und holzgetäfelten Wänden im Esslinger Plenarsaal viele. Vom Abfallstreit in den 80ern, als es um Sinn oder Unsinn eines Müllmeilers in Sirnau ging, über die Neuordnung der Kliniklandschaft bis zu den aktuellen Krisen, ausgelöst durch Kriege, Flucht und ein unbekanntes Virus. Dabei war der grüne Bau auch stets Trutzburg. Gegen Neckarhochwasser ebenso wie gegen politische Brandstifter. So wie am 21. Februar 1980, als erst im Landratsamt und zwei Monate später, am 18. April, am Wohnhaus des Landrats Hans Peter Braun Rohrbomben explodierten. Vorausgegangen war eine Auschwitz-Ausstellung gemeinsam mit Kreisjugendring und den Partnern im polnischen Pruszkow und israelischen Givatayim, die in den Räumen des Landratsamtes Platz fand. Die rechten Drahtzieher des Anschlags, die den Deutschen Aktionsgruppen zuzurechnen waren, wurden später in Kirchheim verhaftet. 

Inzwischen ist in den Pulverwiesen, die auch dem Neubau als Adresse dienen werden, viel Pulverdampf verraucht. An gleicher Stelle, wo im 18. Jahrhundert in sicherem Abstand vor den Toren der Reichsstadt eine mit Wasserkraft betriebene Pulvermühle Holzkohle, Schwefel und Salpeter zu Schwarzpulver verarbeitete. Die Wandlung vom damaligen Pulverwasen zu den heutigen Pulverwiesen war wohl dem „nicht angemessenen sprachlichen Eifer eines städtischen Katasterbeamten“ geschuldet, wie der heutige Kreisarchivar Manfred Waßner herausgefunden hat. 

Sprengstoff ganz anderer Art lagerte in den 70ern zahlreich und streng gehütet in den Katakomben des Landratsamtes: Flaschen mit Hochprozentigem von Brennereien aus dem Lenninger Tal. „Ein beträchtlicher Bestand“, erinnert sich der frühere Dezernent Kurt Fauser. Als die Revision des edlen Geistes einen unerklärlichen Schwund offenbarte, geriet jeder in Verdacht, der im Besitz eines Generalschlüssels war. „Darunter auch ich“, berichtet Fauser. Das Geheimnis um den „Brandschaden“ war allerdings schnell gelüftet: Der Schnaps hatte sich auf natürliche Weise verflüchtigt.

Parlament ohne festes Zuhause

Die Kreispolitik muss sich während der Bauzeit des neuen Landratsamtes mit Ausweichquartieren behelfen. Die Mitglieder des Kreistags werden sich vorerst im Wernauer Quadrium und im Stadthaus in Wendlingen versammeln. Die Fachausschüsse tagen in den Räumen des Verwaltungsrats in der Medius-Klinik in Nürtingen. bk