Zum Gewerbeforum im kleinen Saal der Holzmadener Gemeindehalle hat Bürgermeister Florian Schepp dieses Mal einen ziemlich prominenten Amtskollegen eingeladen: Boris Palmer. Der Tübinger OB hat sich über die Einladung in die Urweltgemeinde gefreut. „Ich habe mir schon immer vorgenommen, mit meiner Familie ins Urweltmuseum zu gehen“, sagt er gut gelaunt. Auch habe er noch nie vor einem Fossil gesprochen, das hat er jetzt auf seiner Habenliste. Angesichts der aktuellen Krisen habe das eine gewisse Symbolik: Was bleibt am Ende übrig?
Zweifel an Abwägung
Natürlich hat der streitbare ehemalige Grünen-Politiker unterhaltsame Anekdoten im Gepäck, denn es geht an diesem Abend um Bürokratie, Gewerbe und Migration. Und die überbordende Bürokratie gehört zu seinen Lieblingsgegnern. So hat es der in Nordamerika beheimatete „Ziegenmelker“ geschafft, bis jetzt die Erweiterung der Tübinger Uniklinik zu verhindern. Dabei habe es sich nur um ein Exemplar gehandelt. „Man kommt ins Zweifeln bei dieser Güterabwägung“, sagt er lakonisch. Denn als Ausgleichsfläche für den Vogel, der ein Offenland-Habitat braucht, könne man zehn Hektar Wald abholzen. Dann wäre ein Erweiterungsbau möglich. Im Jahr 2023 sah man den Vogel nicht mehr, der nun vermutlich tot sei. Dennoch bleibe das Klinikum „Ziegenmelker-Erwartungsland“. Gelächter im Publikum. Palmer wird ernst: Es müsse doch möglich sein, Vorrang für die Klinik einzuräumen. „Ich kann solche Regeln auch nicht vor Ort verteidigen und kann auch den Staat nicht rechtfertigen, das gibt ein Demokratieproblem, von dem diejenigen profitieren, die den Staat abschaffen wollen, warnt er.
Zum Thema Solarparks hat er ein ähnliches Beispiel, das aber einen guten Ausgang hat. Nach acht Jahren Hin und Her mit dem Umweltministerium und dem Verkehrsministerium in Bonn hat er es geschafft, an den Auffahrten zur Bundesstraße B 27 Solarmodule zu installieren. Mittlerweile sind es insgesamt acht Hektar, und der zweite Abschnitt hat nur noch 18 Monate gedauert, weil Palmers Behörde es geschafft hat, eine Vereinfachung des Verfahrens speziell für diese Flächen bundesweit durchzusetzen.
Sein zweites Thema: Arbeitskräfte. Das Lohn-Abstandsgebot würde durch das aktuelle Bürgergeld verletzt, die Rente mit 63 entziehe dem Markt jährlich 400.000 gut ausgebildete Arbeitskräfte, so lautet sein Befund. Außerdem kämen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland auf die geringste Arbeitszeit pro Jahr, allein in der Schweiz arbeite man 200 Stunden mehr. „Das ist ein ganzer Monat“, sagt er. Mehr Windräder fordert er auch, vor allem im Süden. „In Baden-Württemberg und Bayern sind 40 Windräder zugelassen worden. Das ist zu wenig für einen Wirtschaftsstandort, der auf günstige Energie angewiesen ist.
Der Grünen-Politiker steckt noch in ihm, das spüren die rund 100 Gäste in Holzmaden. Aber gleichzeitig gibt es in ihm auch den Pragmatiker, der keine Berührungsängste vor Überschneidungen mit Populisten hat. „Man muss die Migration so ordnen, dass sie in den Arbeitsmarkt läuft, nicht in die sozialen Systeme“, sagt er. Dass es Migration geben muss, steht für ihn außer Frage. „Ohne sie ist die Pflege bei uns nicht möglich“, sagt er.
Kritisch gegenüber Inklusion
Auch die Inklusion an Schulen sieht der Tübinger OB kritisch. „Jedes Kind bekommt einen Schulbetreuer“ bezieht er sich auf die Mitschüler mit Förderbedarf. Dabei gebe es mit den SBBZ ein funktionierendes System. „Es wird immer weiter draufgeschafft, das macht außer Deutschland keiner.“
Für Lösungen brauche es einen offenen Diskurs. „Gut wär es, wir würden die übermoralisierende Diskussion abschaffen. Da könnte ich noch mehr schwätzen ...“, schließt er lachend und hatte nach der Fragerunde mit Florian Schepp Grund zur Freude: Der Schultes schenkte dem Gast einen Gutschein für einen Museumsbesuch mit Familie.
Diskussionsrunde mit Boris Palmer
Demokratie Wie er die Demokratie wieder sachlicher machen würde, und wie man wieder verschiedene Gedanken zulassen könne, lautete eine Frage. Palmer zeigte sich dabei optimistisch. Er habe den Eindruck, dass Diskussionen an manchen Stellen offener geworden seien. So habe man ihn 2021 für seine Aussage gescholten, dass man bei schweren Straftaten Menschen auch nach Afghanistan abschieben sollte. Heute sei das Regierungspolitik. Dagegen stehe die Moral, die kein Argument zulasse.
Wirtschaft Wie er die Wirtschaft in Tübingen angekurbelt habe, ist eine andere Frage. Die allgemeinen Bedingungen seien besser gewesen, sagt er, aber nicht nur deswegen seien die Gewerbesteuereinnahmen in einer „steuerschwachen Stadt“ von 17 auf 70 Millionen Euro gestiegen und liegen aktuell bei 60 Millionen. Tübingen habe das gemacht, wo es gut ist: Die Förderung von Start-Ups aus dem Uni-Umfeld. KI und Biotechnologie und Medizintechnik seien heute wichtige Wirtschaftszweige in der Stadt.
Migration Wie man dem strukturellen Problem beikommen könne, dass es Kriminalität und zu viele Menschen unter Migranten keine ausreichende Sprachkenntnis für den Arbeitsmarkt habe, will ein anderer wissen. Palmer schlägt Spurwechsel vor, in beide Richtungen. Wer Drogenhandel betreibe, so Palmer, solle aus der Stadt zurück in die Landesaufnahmeeinrichtung geschickt werden. Das wäre grundgesetzkonform. umgekehrt fände er es wichtig, den Menschen schneller Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu bieten. Die Qualifikation über Sprachkurse sei oft zu verkopft, es gäbe zu viele Qualifikationsmaßnahmen. Der einfachste Weg für den Spracherwerb sei die Erwerbstätigkeit. zap