Wer verstehen will, weshalb Gerlinde Strobel-Schweizer am kommenden Montag das Bundesverdienstkreuz erhält, bekommt vermutlich mehrere Antworten. Die erste hat ihren Ursprung vor 44 Jahren.
Es war im Juli 1979, kurz nach ihrem 21. Geburtstag, als ihr Körper extreme Symptome einer heftigen Magen-Darm-Grippe zeigte. Das Lebensbedrohliche daran war: Die starken Durchfälle und das ständige Erbrechen hörten auch in den folgenden Wochen nicht auf. „Ich nahm in sechseinhalb Wochen 20 Kilogramm ab“, erinnert sie sich heute. Sie wog damals noch 37,5 Kilogramm, zunächst wusste niemand, worunter sie litt. Der Betriebsarzt wies sie schließlich zur stationären Behandlung ins Klinikum Esslingen ein. Im Klinikum Esslingen stellte Oberarzt Dr. Gräter schließlich die niederschmetternde Diagnose: Morbus Crohn, eine chronische Entzündung des Verdauungstraktes.
„Das war ein Schock, denn diese Krankheit behält man ja ein Leben lang“, sagt sie. Doch die junge Mutter eines dreijährigen Sohnes war und ist eine Kämpfernatur und fand bald einen Weg, mit der Krankheit zurechtzukommen: indem sie mit anderen Betroffenen in Kontakt trat und darüber sprach. Es traf sich gut, dass im Jahr 1982 in Kirchheim
eine Selbsthilfegruppe von Waltraud Müller gegründet wurde, der sie sich anschloss. Im selben Jahr wurde in Tübingen die „Deutsche Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung“ (DCCV) gegründet, auch dort nahm sie an den Gruppentreffen teil.
Die Erkrankung machte sich immer wieder bemerkbar, nicht nur durch die ständigen Durchfälle, sondern auch durch Schwellungen an Armen, Fußgelenken, Händen. „Ich war quasi ein Pflegefall“, sagt sie heute, denn sie konnte weder den Haushalt meistern noch ihr Kind alleine versorgen. Doch sie ließ sich nicht unterkriegen, ihr damaliger Hausarzt behandelte sie mit einem homöopathischen Antirheumatikum in Kombination mit Eigenblut und verschaffte ihr damit Besserung. Trotz ihrer Erkrankung stand Gerlinde Strobel-Schweizer bis 1992 voll im Berufsleben, unter anderem bei Daimler, und wurde 1990 sogar zum zweiten Mal Mutter – dem Risiko zum Trotz. „Danach war ich Mutter und Hausfrau, und die Beschäftigung mit der Krankheit wurde ab 1995 zu einem ehrenamtlichen, unentgeltlichen Beruf“, erinnert sie sich.
Denn 1995 übernahm sie auch die Selbsthilfegruppe von Waltraud Müller, die seit 2004 „Selbsthilfegruppe Morbus Crohn und Colitis ulcerosa Kirchheim – Nürtingen – Kreis Esslingen“, oder einfach kurz: Crohco, heißt. Mithilfe zweier Freunde wurden das markante Krokodil-Logo und die Homepage erstellt. Die Arbeit machte sich all die Jahre bezahlt: Zu Treffen und Vorträgen kommen teilweise mehr als 100 Menschen, ein Arzt-Patienten-Seminar in der Stadthalle Kirchheim lockte sogar 400 Interessierte an.
Die Gruppentreffen und Arzt-Patienten-Seminare organisiert Gerlinde Strobel-Schweizer im MIT Wendlingen, unterhält eine telefonische Sprechstunde zu Hause und trifft sich mit Betroffenen im Bürgertreff Nürtingen. Durch ihre Arbeit und Erfahrungen mit Patienten und Krankenkassen ist sie seit 2005 als ehrenamtliche Richterin am Sozialgericht und seit 2020 am Landessozialgericht gefragt, etwa bei Verhandlungen zur Anerkennung von Schwerbehinderung oder Prozessen zu Opferentschädigungen. Bei der Kassenärztlichen Vereinigung ist sie Patientenvertreterin „der ersten Stunde“, vier Jahre lang nahm sie als Vertreterin des Landesverbands der DCCV im Landtag an Sitzungen zum Thema Gesundheit und Soziales teil und war Gastrednerin bei vielen Verbänden.
„E-Stoffe“ sind ein Problem
Als selbst Betroffene weiß die Weilheimerin eben, wovon sie spricht: 1995 wurden ihr, nachdem sie wöchentlich unter Darmverschluss litt, 60 Prozent des Dickdarms und der Übergang zwischen Dünn- und Dickdarm im Klinikum Esslingen entfernt. Bei der Ernährung muss sie bis heute stark aufpassen, Gemüse mit Oxalsäure wie Spinat oder Rhabarber sind tabu. Sie bereitet möglichst viel selbst zu: Überall, wo E-Stoffe enthalten sind, könnten Probleme lauern. Deshalb bestellt sie auch im Restaurant nie Gerichte mit Soßen, damit sie sich keinen Geschmacksverstärkern aussetzt. Und natürlich ist der Verdauungstrakt immer ein Stressfaktor: „Wir Betroffenen müssen immer wissen, wo die nächste Toilette ist. Von Weilheim bis Stuttgart könnte ich einen Toilettenführer schreiben“, sagt sie lachend. Über die DCCV könne man etwa einen Schlüssel für Behindertentoiletten erwerben. „Das ist schon eine Erleichterung“, sagt sie.
Es ist kein Wunder, dass in den vergangenen Jahren immer wieder Menschen auf Ehemann Karl zugekommen sind, dass seine Frau das Bundesverdienstkreuz bekommen müsste, zumal das 40-jährige Bestehen der Gruppe anstand. Schließlich kamen mehr als 20 Empfehlungsschreiben von Ärzten, Politikern, Funktionären und Betroffenen zusammen, die Karl Strobel über die CDU-Landtagsabgeordnete Dr. Natalie Pfau-Weller an das Staatsministerium weitergeleitet hatte.
Dann zog etwas mehr als ein Jahr ins Land und das 40-jährige Bestehen der Selbsthilfegruppe wurde verpasst. Dann lag aber im August ein ganz besonderer Brief im Briefkasten: mit dem Stempel der Landesregierung und der Villa Reitzenstein als Absender. Es war die Mitteilung von Ministerpräsident Kretschmann, dass Gerlinde Strobel-Schweizer das Verdienstkreuz am Bande vom Bundespräsidenten verliehen wird. „Da habe ich erst einmal Gänsehaut bekommen und es sind schon ein paar Freudentränen gekullert.“ Am Montag wird sie in Weilheim von Landrat Heinz Eininger die Ehrung erhalten – seine Laudatio dürfte umfangreich werden.