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Buntes Treiben in der Neckarspinnerei

Innovation Auf dem historischen Areal in Wendlingen tummeln sich bereits Start-ups und andere Kreative. Dabei geht der Architektenwettbewerb jetzt erst los. Eine Bilanz. Von Kerstin Dannath

Leerstände neu nutzen, Arbeiten und Wohnen sinnstiftend miteinander verbinden, Raum für Kunst und Diskussionen schaffen sowie gemeinwohlorientierte inklusive Projekte entwickeln – und das alles mit dem frischen Wind innovativer Start-ups als ständigen Mitbewohnern in den Segeln: In der Wendlinger Neckarspinnerei ist Leben eingezogen.

Paul Vogt (30) und Richard Königsdorfer (32), sitzen mit dicken Jacken, Mützen und warmen Stricksocken im ehemaligen Spinnereisaal des Hochbaus von 1860. Dampfende Kaffeebecher stehen auf dem Tisch, daneben surren die aufgeklappten Laptops. Der Stuttgarter Verein Adapter, bestehend aus jungen Architekten und Städteplanern, erprobt seit Juni ein Projekt zur Schaffung neuen Wohnraums, wobei temporär leer stehende Flächen genutzt werden.

Der erste Prototyp ihres Paneel-Holzbausatzes „Endo“ weist nun deutliche Nutzerspuren auf. Im Bad stehen Zahnputzbecher, die Kaffeemaschine auf der Küchenzeile ist angeschaltet. In der Ecke sind einige Matratzen gestapelt – mehr als zwei Personen können allerdings nicht in „Endo“ schlafen. „Es war hochinteressant, diesen Ort mit all seinen Facetten zu erfahren“, sagt Königsdorfer, der selbst einige Mal in der Neckarspinnerei genächtigt hat. „Je länger man hier ist, desto besser kann man sich vorstellen, dass so ein temporäres Wohnprojekt hier funktionieren kann“, bestätigt Vogt. Bei der Aufzählung der Vorzüge kommen die beiden Architekten fast ins Schwärmen – das großzügige Platzangebot, die Nähe zum Neckar und die vielen Interessierten, die bei Veranstaltungen oder einfach nur so vorbeigeschneit seien. „Es gab mehr Resonanz, als wir erwartet hatten“, sagt Vogt. Was ihn besonders beeindruckte: „Fast jeder hat eine persönliche Geschichte zum Areal zu erzählen.“

Auf die Frage nach der größten Einschränkung erklären beide unisono, dass das Thema Heizen schwierig sei. „Endo“ hat als geschlossenes System zwar eine Heizung, der umliegende 1600 Quadratmeter große Spinnereisaal aber nicht. Es herrscht Außentemperatur und die ist Mitte Oktober meist nicht sonderlich kuschelig. Auch die Lage Wendlingens am Rand des Stuttgarter Speckgürtels sei manchmal schwierig. „Für eingefleischte Städter ist das weit ab vom Schuss“, sagt Vogt. Dennoch: Alle Besucher waren begeistert vom Areal. Die Adapterleute betonen, dass auch die räumliche Nähe zum Eigentümer HOS, deren Hauptsitz gerade mal 1,7 Kilometer entfernt ist, ein großes Plus ist. „Die Wege sind kurz, so etwas gibt es in Stuttgart nicht“, sagt Vogt. Adapter wird nun über den Winter weiter am Konzept, etwa an der Finanzierung, feilen und 2023 erneut in die Neckarspinnerei einziehen – mit mehreren Wohnmodulen nebeneinander, um als Gruppe dort zu wohnen.

Im einzigen Gebäude des historischen Ensembles, das nicht unter Denkmalschutz steht, dem fünfeckigen ehemaligen Baumwolllager aus den 1950er-Jahren, sind im März fünf Start-ups eingezogen – von Unternehmensberatungen, einem Hersteller von Spezialklebestoffen über eine Manufaktur für Exoskelette und einer Firma, die sich der umweltfreundlichen Wildkraut- und Schmutzbekämpfung widmet, bis hin zu einem „Verpackungsprofi“. Ebenso ist seit Anfang des Jahres in einem Teil des Spinnerei-Hochbaus der Werksverkauf der HOS-Traditionsmarke Luxorette zu finden.

Aktuell laufen die Sanierungsarbeiten im Batteurgebäude – dort hat sich mit der Batene GmbH ein Ableger des Max-Planck-Instituts eingemietet. Geforscht wird an einer neuen Stufe der Energiespeicherung in Batterien. „Wir streben danach, die Transformation von einer auf fossilen Brennstoffen basierenden zu einer CO2 -freien Ökonomie zu beschleunigen“, heißt es auf der Firmenwebsite der Firma. Im Batteurgebäude wurden einst die großen Baumwollballen aufbereitet, damit sie später zu Garn gesponnen werden konnten. Nun wird dort auch ein Reinraum zu Forschungszwecken eingerichtet.

Mit dem Verein Leben Inklusiv, der ehemals als Behindertenförderung Linsenhofen firmierte, steht ein weiterer Mieter in den Startlöchern. Vorgesehen ist eine Behindertenwerkstatt im Hochbau mit öffentlicher Kantine und Büros. „Es fehlt noch der letzte Knopf“, sagt Projektentwickler Andreas Decker, der in der HOS-Gruppe für das Neckarspinnerei-Areal verantwortlich ist. Alle Mieter seien der HOS mehr oder weniger zugelaufen: „Wir haben keine Akquise betrieben“, bestätigt Frank Reiner, der kaufmännische Leiter.

Nach langem Hin und Her hatte der Wendlinger Gemeinderat erst in der letzten Sitzung vor der Sommerpause seine Zustimmung zu dem städtebaulichen Wettbewerb des Areals gegeben. „Zu unserer Freude mit großer Mehrheit“, betont Reiner.*