Musik
Chorgesang im Wandel der Zeit

Vor 200 Jahren wurde der Männergesangverein Bissingen gegründet. 172 Jahre lang war das Singen im Ort allein in Männerhand. Über die Jahrzehnte wurden die singenden Männer weniger, sangesfreudige Frauen und Kinder kamen dazu. 

Seit 1996 gibt es den Gemischten Chor "Frischer Wind" beim MGV Bissingen. Foto: Markus Brändli

Der Bissinger Männergesangverein (MGV) feiert am morgigen Sonntag, 14. Juli, um 17 Uhr mit einem Jubiläumskonzert in der Marienkirche seit 200-jähriges Bestehen. Dabei werden anders als im Gründungsjahr 1824 nicht mehr allein die Männer mit ihrem aktuellen Projektchor auf der Bühne stehen, sondern mit dem gemischten Chor „Frischer Wind“ und den jüngsten Sängerinnen und Sängern des Kinderchors „Kiebitze“ die volle Bandbreite des heutigen Vereins. Mit seiner 200-jährigen Geschichte ist der MGV Bissingen einer der ältesten Gesangvereine Deutschlands. Weitere wie die Liederkränze in Stuttgart (1824), Kirchheim (1826) und Esslingen (1827) entstanden ebenso zu dieser Zeit.

Ein Blick zurück ins Jahr 1824: Der erste Advent war in diesem für die Bissinger Kirchgängerinnen und Kirchgänger ein besonderer. Grund dafür war die Einweihung der neuen Orgel als Herzstück des südlichen Erweiterungsbaus der Kirche. Gebaut hatten sie der örtliche Orgelbauer Johann Victor Gruol mit seinen Söhnen.

Chor begleitete bei Gottesdiensten

Dieses Ereignis hatte unmittelbar mit der Gründung des Bissinger Männerchores zu tun, berichten die Vereinsmitglieder Klaus Gölz, Karl Weber (Ehrenvorsitzender) und Gerhard Flad (Vorsitzender). Zwischen 1750 und 1824 hatten vier Posaunenbläser die Gemeinde zusätzlich zum Organisten beim Singen im Gottesdienst begleitet. Und das eigentlich nur, weil der Klang der Vorgängerorgel „schauderhaft“ war, weiß Klaus Gölz: „Grund dafür waren zu der Zeit 80 fehlende Pfeifen, die gestohlen worden waren.“ Mit dem kräftigen Klang der neuen Orgel war dieses Problem behoben und die Posaunen verstummten. Stattdessen wurden die vier Bläser aufgefordert, zusammen mit anderen sangesbegabten Männern einen vierstimmigen Chorgesang zu üben, um jenen der Kirchengemeinde zu unterstützen. Das war die Geburtsstunde des Bissinger Männerchores, der bereits drei Jahre später 25 Sänger zählte. Der erste Chorleiter war der damalige Schulmeister David Reininger. 

„Dass es sich um keinen reinen Kirchenchor handelte, wird schon dadurch deutlich, dass der Chor ab 1825 Zuweisungen aus der Kommunalkasse erhielt“, ergänzt Gölz. 1827 gab es Order vom Kirchenkonvent, doch bitte auch Lieder aus dem Gesangbuch einzustudieren, geprobt wurde in der kleinen Ratsstube im Alten Rathaus. 

Vor Klaus Gölz, Karl Weber und Gerhard Flad auf dem Tisch liegt die Chronik, die 1999 anlässlich des 175-jährigen Jubiläums herausgegeben wurde, ebenso wie sehr alte Liederbücher. „Die ältesten im Archiv stammen aus dem Jahr 1889. Sie wurden von den Sängern noch von Hand geschrieben, ebenso wie die alten Protokollbücher“, erklärt Klaus Gölz und blättert in einem der alten Bände, in den fein säuberlich die Noten und Liedtexte eingetragen wurden. „Man findet in den Büchern Titel wie ‚Abschied von den Alpen‘, ‚Ihr Berge lebt wohl!‘, ‚Still ruht der See‘ oder ‚Das Mädchen und das Röslein‘ “, nennt Klaus Gölz Beispiele. Das Liedgut des Chores sei zu damaliger Zeit eher ein spätromantisch-ästhetisches als ein zeitgeistliches gewesen. „Militärische Marschmusik findet man darin nicht. Nur ein einziger zeitgeistlicher Titel, ‚Ein Sohn des Volkes will ich sein‘, ist darunter“, so Gölz. Im Fokus des ersten Bissinger Männerchores seien ganz klar die Freude am Singen an sich und die Gemeinschaft gewesen. Daran habe sich auch 200 Jahre später bei den heutigen Sängerinnen und Sängern nichts geändert: „Es war schon immer ein umtriebiger Verein, das Zusammenkommen nach dem Singen gehörte immer dazu, genauso wie gemeinsame Aktivitäten“, sagt Gerhard Flad, der wie Klaus Gölz im gemischten Chor singt. 

Frauen singen seit 1996 mit

Während der beiden Weltkriege kam der Männerchor zum Stillstand, fand aber, sobald es wieder möglich war, immer wieder zusammen. Im 19. Jahrhundert wurden zahlreiche Vereine ins Leben gerufen, darunter viele Männergesangvereine. Frauen kamen zu damaliger Zeit im Vereinsleben, egal ob kultureller oder anderer Art, gesellschaftsbedingt nicht vor: „Das passte nicht ins damalige Rollenbild“, so Klaus Gölz. Nach Ende des Ersten Weltkrieges war der Männergesangverein bereits Mitte der 1920er-Jahre wieder sehr aktiv: 1926 war für die Sänger ein wichtiges Jahr, in dem sie unter anderem ihre bis heute vorhandene Vereinsfahne nach jener aus dem Jahr 1862 bekamen. Sie wurde zum ständigen Begleiter bei vielen Festen und anderen Anlässen. 1927 zählte der Männerchor fast 40 Sänger. 

„Ein aktives Vereinsleben war nach dem Zweiten Weltkrieg erst ab den 50er-Jahren wieder möglich“, berichtet Karl Weber. Er selbst ist seit 1964 Mitglied, sang so lange er existierte im Männerchor und aktuell im Männer-Projektchor mit und war viele Jahre der Vereinsvorstand. Bei der ersten Probe nach dem Krieg am 4. November 1950 waren 45 Sänger mit im Boot. Zwei Jahre später gründete der damalige Chorleiter und Lehrer Manfred Keller einen Schulchor, der zugleich der erste Kinderchor des Gesangvereins war. 1984 wurde nach längerer Pause ein neuer Kinderchor gegründet, der bis heute Bestand hat und aktuell unter dem Namen „Kiebitze“ von Martina Sturm geleitet wird. „Mitte der 50er-Jahre war der Männergesangverein ein halber Theaterverein. Jedes Jahr wurde ein Singspiel inklusive selbst gemalter Kulissen – die bis heute vorhanden sind – im voll besetzten Saal des Gasthaus Krone aufgeführt, darunter ‚Carmen‘, der ‚Freischütz‘ und ‚Präziosa‘ “, berichtet Karl Weber. Die Theatergruppe leitete Fritz Bazle. 

Groß gefeiert wurde zum 150-jährigen Bestehen des MGV 1974 und 1999 beim 175-jährigen Jubiläum. „Damals waren viele Sänger schon im höheren Alter. Trotzdem wurde das Fest gemeinsam gestemmt und drei Tage lang gefeiert“, erinnert sich Karl Weber. Um den Gesangverein auf breitere Füße zu stellen, hatte er als damaliger Vorstand gemeinsam mit Chorleiter Hartmut Volz überlegt, was zu tun ist. 1996 startete so zusätzlich der gemischte Chor „Frischer Wind“, seitdem sind auch die sangesfreudigen Frauen mit von der Partie, heute unter der Leitung von Elisabeth Friedl. Musikalisch ist der Chor sowohl deutsch- als auch englischsprachig unterwegs, das Repertoire ist vielfältig. Beim morgigen Konzert steht Filmmusik auf dem Programm. „Wir singen, was Spaß macht“, sagt Gerhard Flad. 

„Beim Männerchor war schon ab den 90er-Jahren eine Überalterung und fehlender Nachwuchs zu verzeichnen, wie in vielen Männerchören“, berichtet er, „ab 2008 wurde es deutlich weniger.“ Auch eine Fusion mit dem Dettinger Männerchor 2015/16 brachte nicht den gewünschten Effekt. „Aus Bissingen waren es nur noch rund 15 bis 20 Sänger. Die Corona-Jahre haben dem Männerchor den Rest gegeben“, so Flad. Extra zum 200-jährigen Jubiläum hat Chorleiterin Elisabeth Friedl einen Männer-Projektchor ins Leben gerufen, der mit seinen gut 20 Mitgliedern im Alter von 30 bis 70 Jahren beim Jubiläumskonzert auftreten, danach aber wohl wieder aufgelöst wird. Neue Projektchöre werden allerdings jährlich gestartet.

Infos unter: www.mgv-bissingen.de

Der Bissinger Kinderchor "Kiebitze" bei seinem diesjährigen Musicalauftritt. Foto: pr
Aus dem Jahr 1953 stammt das erste Foto des damaligen Bissinger Männerchors nach dem Zweiten Weltkrieg. Foto: pr