Zwischen Neckar und Alb
Corona-Demos: Ein Spaziergang mit Beigeschmack

Corona Trotz hoher Infektionszahlen haben am Montag 600 Menschen gegen Corona-Regeln und Impfungen protestiert. Gespräche mit Teilnehmern offenbaren teils abstruse Ansichten. Von Matthäus Klemke

Weil wir in einer Diktatur leben“, antwortet ein Mann verärgert auf die Frage, wieso er mit einer Kerze in der Hand die Bahnhofstraße entlangläuft. Gemeinsam mit seinen 600 Mitstreitern wolle er seinem Ärger auf diese Weise Luft machen. Dass die 600 Leute trotz hoher Infektionszahlen am Montagabend durch die Nürtinger Innenstadt ziehen dürfen, haben sie in erster Linie dem Versammlungsrecht zu verdanken.

Bereits seit einigen Wochen treffen sich Impfgegner, Querdenker, Regierungskritiker und Verschwörungstheoretiker auch in Nürtingen, um an nicht genehmigten Demonstrationen teilzunehmen – von den Teilnehmern verharmlosend als „Montagsspaziergänge“ bezeichnet. Spontane Aktionen sollen es sein. Der Gedanke dahinter: Eine Demonstration könnte die Stadt verbieten, einen spontanen Spaziergang nicht.

Dass die Versammlungen alles andere als spontan ablaufen, zeigt ein Blick in den Messengerdienstes „Telegram“. Hier tauchen auch Termine für die Nürtinger Proteste auf. Außerdem findet sich hier ein „Leitfaden für Spaziergänger“. Darin wird unter anderem geraten, keinen Personalausweis bei sich zu tragen. „100 Spaziergänger sind nicht zu kontrollieren“, so der Plan.

Um kurz vor 18 Uhr am Montagabend werden die ersten rund 400 Teilnehmer vor dem Nürtinger Rathaus – wenig spontan – von der Polizei in Empfang genommen. Kurz nach 18 Uhr setzt sich der Pulk in Bewegung und dreht seine Runden durch die Innenstadt. So gut wie keiner der Teilnehmer trägt einen Mundschutz, genügend Abstand zu halten ist auf den Gehwegen unmöglich. Angst, sich infizieren zu können – Fehlanzeige. Und Einigkeit herrscht, dass Imfungen nichts bringen würden. Ganz im Gegenteil, behauptet ein „Spaziergänger“: „In den Impfungen sind zwei Giftstoffe“, behauptet er. „Man muss den Beipackzettel genau lesen.“ Ein anderer bestärkt ihn: „Seitdem meine Frau geboostert ist, ist sie krank.“

Dass laut RKI mehr Ungeimpfte Corona-Patienten auf den Intensivstationen liegen, scheint hier für niemanden ein Argument zu sein. „Diese Zahlen sind doch gelogen“, sagt ein Mann. Verbreitet würden diese Lügen über die Medien, die gekauft seien, von Politikern, aber „es geht noch tiefer.“

An einer Ecke warten sechs vermummte Antifa-Mitglieder auf den Protestzug, werfen den Demonstranten vor, mit Rechten zu paktieren. Ein Vorwurf, mit dem sich die selbst ernannten Schützer der Demokratie immer wieder konfrontiert sehen und der nicht ganz abwegig ist, schaut man, wer zu den sogenannten Spaziergängen aufruft. In einem Online-Video fordert Jörg Hoyer zu diesen Montagsspaziergängen auf, um den deutschen Staat – speziell die Polizei – „an seine Handlungsgrenzen zu bringen“. Hoyer ist Gründungsmitglied der Legida, einer fremdenfeindlichen Organisation, die vom sächsischen Verfassungsschutz als deutlich radikaler eingestuft wurde als Pegida. Auf den Vorwurf, sich von rechtsradikalen instrumentalisieren zu lassen, antworten die Corona-Protestler mit einer ganz eigenen Theorie: Ähnlich wie die Medien sind auch die Gegendemonstranten gekauft – alle sechs. „Für 50 Euro steht ihr hier“, schreit ihnen jemand zu. Ein anderer beschimpft sie als „Verräter“.

Bis auf dieses kurze Aufeinandertreffen bleibt alles friedlich. Nach Aufforderungen der Polizei löst sich der Protestzug gegen 19.30 Uhr auf. Dennoch stellt sich die Frage, wieso eine nicht genehmigte Versammlung, bei der klar gegen Corona-Regeln verstoßen wird, von der Stadt toleriert wird.

Obwohl laut Ordnungsamt am Montag so viele Corona-Demonstranten wie noch nie in der Stadt unterwegs waren, möchte man in Nürtingen noch keine Allgemeinverfügung verhängen, mit der man die Aktionen untersagt, aus Gründen „rechtlicher Hürden und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“, wie es in einer Pressemitteilung der Stadt heißt. Man behalte sich diesen Schritt aber vor, sollte es weiter zu Rechtsverstößen kommen. Die stetig steigende Zahl der Teilnehmer berge aber durchaus Gefahren: „Mit der Zahl der Teilnehmenden an diesen nicht angemeldeten Spaziergängen wächst auch die Gefahr, dass sich darunter Personen befinden, die nicht nur friedliche Absichten hegen“, heißt es in der Pressemitteilung. Nun gelte es, keinen Demonstrationstourismus entstehen zu lassen.

Deshalb soll die Polizei künftig verstärkt auf die Einhaltung der Corona-Bestimmungen achten. „Versammlungsfreiheit und das Recht auf Meinungsäußerung sind für eine Demokratie elementar. Allerdings gibt es Regeln, an die sich jeder halten muss“, so Nürtingens Oberbürgermeister Johannes Fridrich. „Jeder Gastronom, jeder Einzelhändler, der die Corona-Regeln nicht einhält, muss mit einem Bußgeldbescheid rechnen, das muss dann aber auch für alle gelten.“ Fridrich appelliert an die Nürtinger Bürger, sich nicht an den „Spaziergängen mit Regelverstößen“ zu beteiligen.

 

Städte sind in einem Dilemma

Gefahren bei der Tolerierung der Corona-Spaziergänge sieht Nürtingens Oberbürgermeister Johannes Fridrich durchaus. „Mit der Zahl der Teilnehmenden an diesen nicht angemeldeten Spaziergängen wächst auch die Gefahr, dass sich darunter Personen befinden, die nicht nur friedliche Absichten hegen“, heißt es in einer Pressemitteilung der Stadt. Nun gelte es, keinen Demonstrationstourismus entstehen zu lassen. Deshalb soll die Polizei künftig verstärkt auf die Einhaltung der Corona-Bestimmungen achten. „Versammlungsfreiheit und das Recht auf Meinungsäußerung sind für eine Demokratie elementar. Allerdings gibt es Regeln, an die sich jeder halten muss“, so Nürtingens Oberbürgermeister Johannes Fridrich. „Jeder Gastronom, jeder Einzelhändler, der die Corona-Regeln nicht einhält, muss mit einem Bußgeldbescheid rechnen, das muss dann aber auch für alle gelten.“ Fridrich appelliert an die Nürtinger Bürger, sich nicht an den „Spaziergängen mit Regelverstößen“ zu beteiligen. Bürgermeisterin Annette Bürkner ergänzt, dass es wichtig sei, Entscheidungen kritisch zu hinterfragen. „Eine Demokratie lebt von der Vielfalt an Meinungen. Ihr Funktionieren bedingt aber auch den Willen, anderen Argumenten zugänglich zu sein.“

Während man in Nürtingen noch auf den guten Willen der Protestler setzt, sind Städte wie Esslingen, Kirchheim und Filderstadt bereits einen Schritt weiter gegangen und haben mit Allgemeinverfügungen auf die Versammlungen reagiert und sie untersagt. Laut Pressestelle der Stadt Esslingen habe die Zahl der Demonstranten seitdem abgenommen. 175 Menschen habe man am vergangenen Montag gezählt.

Die Stadt Kirchheim hat Ende Dezember in einer Allgemeinverfügung ein Versammlungsverbot erlassen. „Nach Einschätzung der Stadtverwaltung und der Polizei haben die Allgemeinverfügungen zunächst für stagnierende Teilnehmerzahlen gesorgt“, so Robert Berndt, Pressesprecher der Stadt Kirchheim. Derzeit steige die Zahl der Demonstranten aber wieder. Waren es bei den ersten Versammlungen im Dezember noch etwa 150 Personen, so wurden in der vergangenen Woche 400 Personen gezählt. Am Montag sollen es bereits 550 gewesen sein. mak