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Das Café Nagel ist Geschichte

Treffpunkt Schön war die Zeit: Nach mehr als sechs Jahrzehnten muss Ursula Junger von ihrem beliebten Lokal Abschied nehmen. Es war eine Institution in Boll, auch als Tanzcafé für Kurgäste. Von Sabine Ackermann

Seid nicht traurig, dass es vorbei ist, lächelt, weil es über sechs Jahrzehnte so schön war!“ Mit dieser Nachricht im Blättle der sechs Voralbgemeinden ist es gesagt: Das Tanzcafé Nagel in Boll ist Geschichte. Aktuell findet der Räumungsverkauf statt, Mengen an Mobiliar, Gläsern aber auch Raritäten wie Diskolicht, Effektanlagen oder Lampen und Spiegel haben sich angesammelt.

„Alles muss raus“, sagt Ursula Junger, die im dazugehörigen, aber separaten Anwohnerhaus von Onkel und Tante Karl und Alma Nagel und ihrer Mutter Emma Kälberer groß geworden ist und seit 13 Jahren dort wieder ihr Zuhause hat. Emma und Alma hat Ursula bis zu ihrem Tod gepflegt. „Weder meine Mutter noch meine Tante sollten in ein Heim kommen, das hätte mein Helfersyndrom gar nicht zugelassen“, erzählt sie und ergänzt: „Es war auch in der Zeit, in der ich mein Privathaus verloren habe und 2009 das Café Nagel zwangsversteigert wurde.“

Erinnerungen, die sehr weh tun. Blickt die heute 74-Jährige Gastronomin gleichwohl an die Anfänge des Nagels zurück, sind es unzählige schöne, lebendige und unvergessene Erinnerungen. Es war am 17. August 1957, als Bäcker und Konditor Karl Nagel, der bereits 1996 starb, das Tagescafé mit Fremdenzimmern eröffnete. Lachend berichtet Ursula Junger: „Ich war elf, als ich mit dem Handwägele die Koffer unserer Pensionsgäste am Bahnhof abholen durfte.“ Seinerzeit angereist mit dem „Boller Mariele“, der Voralbbahn, die längst Geschichte ist. Fortan waren Familie und Geschäft ihr Lebensmittelpunkt. Nach ihrer Ausbildung an der Hotelfachschule Bad Überkingen und Schulung bei Spitzenkoch Eckart Witzigmann, absolvierte sie den Wirtebrief, heiratete 1966 Dieter Junger, bekam von 1967 bis 1972 Wolfgang, Susanne und Gerald und musste 1977 die Scheidung verarbeiten – danach sagte Ursula Junger nie wieder „ja“.

Vor 65 Jahren eröffnet, hat sich das Café Nagel, von der Dorfjugend mitunter „Drohdstift“ genannt, immer mehr zu einem der angesagtesten Tanzlokale im Landkreis Göppingen entwickelt. Heute unbezahlbar, tanzten auch die Kurgäste nach der Livemusik bekannter Kapellen wie „Blue-Stars“ oder „Tele-Boys“, ließen sich Gulaschsuppe, Spezial-Schnitzel-Toast oder Nagel-Karles Frankfurter Kranz und seinen selbstgebrannten Schlehenschnaps schmecken. Es waren die Jahre, wo Handballer Peter Bucher, 1970/72 Deutscher Meister mit Frisch Auf, vorbeischaute und Friseur-Weltmeister Parigi zum Binokeln kam, auf einer der ersten Speed-Kegelbahn `ne schnelle Kugel geschoben wurde und die Weine noch „Kröver Nacktarsch“ oder „Zeller schwarze Katz“ hießen.

Um das leibliche Wohl der Gäste kümmerte sich von Beginn an das eingespielte Küchen-Team Alma, Emma und ihre gute Seele Klara Link, wobei letztere in Personalunion darüber hinaus für die Sauberkeit der zehn Fremdenzimmer und den gastronomischen Räumlichkeiten zuständig war.

Lief es da schon gut im Tanzcafé, kam mit der Disco-Musik die absolute Blütezeit, wo natürlich Discokugel, Laser, mehrere Lichtanlagen, Nebelmaschine und wechselnde Discjockeys der Marke „Daddy Cool“ nicht fehlen durften. „Let‘s groove“ lautete fortan das Motto, bis zu 300 Tanz- und Musikbegeisterte vergnügten sich pro Abend im Nagel zu einem Mix aus Schlagern und aktuellen Charthits.

Hinter der Tanzfläche schloss sich ein ausgedehnter Barbereich an, den illustre Gäste aus Nah und Fern gerne in Beschlag nahmen. „Wir hatten eine der modernsten Anlagen und eine Plattensammlung, die nah an der 8000-Marke kratzte“, berichtet Ursula Junger stolz. Lief noch Mitte der 80er Modern Talking rauf und runter, wurde es mit den Jahren immer ruhiger im Tanzcafé Nagel: Disco war out.

Erst Disco, dann Tanztee

Doch die taffe Schwäbin, die viele „Mama Leone“ nannten, kämpfte weiter, der „Tanztee für Ältere“ war geboren. Und die fitten Kurgäste genossen es am Sonntagnachmittag bei Kaffee, Kuchen und Tanz unter Gleichgesinnten zu sein. Lief das neue Format eine Zeitlang ganz gut, machten ansteigende Hüft- und Knieoperationen der Reha-Patienten immer öfter einen Strich durch die Rechnung.

„Ich habe in diesen Jahrzehnten nie wirklich Urlaub gemacht“, macht Ursula Junger deutlich. Sie erinnert sich an den Satz ihrer bescheidenen Tante Alma, die, als es ihr schlechter ging, einst sagte: „Ursel, wir waren dumm. Vor lauter Schaffa haben wir das Leben vergessen.“

Eine Kämpferin war sie schon bei der Leichtathletik und im DLRG-Schwimmverein, behauptete sich als Frau in der Gastronomie, ließ sich nichts gefallen und vereinte Mut mit Diplomatie. Doch als ein paar halbstarke Jugendliche einmal reichlich Alkohol bunkerten, schnappte sich Mama Leone das Mikro und verkündete lautstark: „An die, die mich gerne bescheißen, ich habe eure ganzen Wodkaflaschen entsorgt.“ Logisch, dass darauf ein lebenslanges Hausverbot folgte. Ursula Junger macht deutlich „Ich war keine Untertänige, ich war eine Macherin.“ Dennoch, ihr Traum, das Nagel wieder zurückzubekommen, wurde leider nicht wahr.

 

Der Ausverkauf im Café Nagel läuft. Wer sich dafür interessiert, meldet sich unter der Nummer: 01 75/7 98 00 79