Die Einladung zum Bürgerrat hätte Hanna Uhlich fast in den Mülleimer geschmissen. „Ich dachte erst, das ist ein Werbezettel“, erinnert sich die Bissingerin. Dann schaute sie genauer hin und sah das Logo der Bundesregierung und las den Namen des Bundestagspräsidenten: Wolfgang Schäuble. Die Lehrerin für Englisch und Psychologie am Kirchheimer LUG setzte sich an den Computer und recherchierte, was es mit dem Bürgerrat auf sich hatte. „Das interessierte mich“, erzählt sie. Denn die Chance, sich mit Experten zu einem politischen Austausch zu treffen, wenn auch coronabedingt nur virtuell, bietet sich einem nicht alle Tage.
Die Gemeinde Bissingen war in einem komplizierten Verfahren ausgelost worden. Wie viele Bürgerinnen und Bürger des Ortes letztlich angeschrieben wurden, weiß Hanna Uhlich nicht. Fest steht aber, dass sie die einzige Bissingerin ist, die tatsächlich mitgemacht hat. Und sie hat es nicht bereut: „Das hat einen Mega-Spaß gemacht“, schwärmt sie auch Wochen später noch von ihrer Bürgerrat-Erfahrung.
Zoom statt Treffen
Das Mitmachen war dabei durchaus anspruchsvoll: Vier Samstage à acht Stunden und sechs Mittwoch-Sitzungen von jeweils drei Stunden diskutierte Hanna Uhlich über Deutschlands Rolle in der EU. Normalerweise hätten sich die Gruppen an drei Wochenenden in Berlin getroffen, wegen der aktuellen Umstände mussten Zoom-Konferenzen reichen.
Beraten wurde in fünf Untergruppen mit je 30 Teilnehmern, in Kleingruppen mit sieben Personen sowie sechs Mal im Plenum. Bevor es aber überhaupt losgehen konnte, brachten Experten die Diskutanten auf den gleichen Wissensstand. „Das waren wahnsinnig intelligente und tolle Leute, die uns einen super kompetenten Input gegeben haben“, schwärmt sie. Bei der EU-Politik ging es sowohl um die Migrations- als auch um die Außenpolitik. „Ich war überrascht, dass in der EU offenbar jedes Mitglied tun kann, was es will“, staunt sie. Auch war für sie neu, dass es keinen legalen Weg in der EU gibt, Asyl zu bekommen. „Man muss dafür illegal über die Außengrenzen kommen.“ Das Asyl sei dann auch nur im Land der Erstaufnahme zu stellen. Einen legalen Weg nach Deutschland gebe es somit gar nicht.
Für die 160 Teilnehmer gab es auch ein Treffen mit den außenpolitischen Sprechern aller Fraktionen, wie dem Nürtinger Abgeordneten Nils Schmid von der SPD oder Gregor Gysi von den Linken. „Nur der Sprecher der AfD hat unentschuldigt gefehlt“, merkt sie an. Dafür nahmen sich die anderen viel Zeit. Auf Uhlichs Frage, ob mit den Vorschlägen des Bürgerrats wirklich etwas passieren werde, antwortete ihr Roderich Kiesewetter von der CDU: „Schäuble ist der Schirmherr, der macht nichts, wo er nicht dahintersteht.“ Der Bürgerrat hat 32 Punkte erarbeitet, die am Freitag, 19. März, an Vertreter des Bundestags übergeben werden.
Einstimmigkeit aufheben
Zu den Vorschlägen gehört es, das Prinzip der Einstimmigkeit bei der Außenpolitik oder Migration aufzuheben. „Dadurch kann ein Staat andere erpressen und seine Zustimmung an andere Forderungen knüpfen. Unsere Empfehlung ist, in außenpolitischen Fragen eine qualifizierte Mehrheit für Beschlussfassungen einzuführen“, sagt sie. „Wir fänden es auch gut, wenn Deutschland sich für eine eigenständige europäische Außenpolitik einsetzen würde“, fügt die Bissingerin hinzu. Was sie überrascht hat, war die Übereinstimmung der Teilnehmer bei den jeweiligen Empfehlungen. „Die schwächste Empfehlung hatte 75 Prozent Zustimmung“, sagt sie. Eine Erklärung hat sie dafür auch. „Wenn man sich auf Grundsätzliches einigt, gibt es nicht so viel Spielraum, etwa dass Menschenrechte unverzichtbar sind.“
Extreme politische Positionen habe es in den Diskussionsgruppen nicht gegeben. „Es war extra ein anonymer Chat eingerichtet worden, in dem man sich äußern konnte, aber auch der ist leer geblieben“, sagt sie. Sie schätzt aber auch, dass Extremisten ohnehin nicht bei so einem Projekt mitmachen würden.
Hanna Uhlich hat die Erfahrung mit den ihr zuvor unbekannten Mitstreitern Mut gemacht: „Wenn man die Medien verfolgt, könnte man denken, jeder Zweite ist Querdenker. Es wird zu viel über Hass-Politik berichtet. Ich glaube aber, der Großteil der Bevölkerung hat kapiert, worum es geht: dass Politik immer auch mit Zurückstecken zu tun hat.“ Für Bürgerabstimmungen ist sie aber nicht uneingeschränkt. „Ich bin froh, dass diejenigen, die Gesetze machen, Fachleute sind. Ich hatte jetzt beim Bürgerrat viele Aha-Erlebnisse, die mich demütig gemacht haben.“