Kirchheim. Die Tübinger haben es in einer taufrischen Produktion gewagt, Virginia Woolfs Roman „Orlando“, erschienen im Jahr 1928, auf die Bühne zu stemmen. Regisseurin Annette Müller hat bei ihrer Theaterfassung den epischen Text nicht zu einem dramatischen gebürstet: Sie hat einzelne Passagen daraus gewählt, die von fünf Bühnenpersonen, zwei Frauen und drei Männer, in wechselnder Besetzung vorgetragen werden. Die anderen Akteure begleiten diese Texte mit fließenden Bewegungen im Zeitlupentempo, die ihrerseits etwas „erzählen“. Dabei muss nicht immer nur ein Solist sprechen – es gibt auch Gruppenchoreographien.
Die Romanautorin Virginia Woolf kündigt eine Biografie an: Ein fiktiver Biograf erzählt in sechs Abschnitten die Lebensgeschichte eines fiktiven Orlando, die nicht weniger als dreieinhalb Jahrhunderte umfasst. Die Beschreibung beginnt in England im Jahr 1586: Orlando, ein junger Adliger und ein intimer Freund der Königin Elisabeth I., verliebt sich in eine russische Gräfin, die ihn nach kurzer Zeit wieder verlässt. Orlando geht nach Konstantinopel, wo er in einen tiefen Schlaf fällt und erst nach einer Woche als Frau erwacht. Orlando kehrt als Frau wieder nach England zurück. Woolf spielt also nur mit der Form der Biografie. Für sie sind Biografien mehr von Poesie als von Fakten geprägt.
Immer bewegen Orlando vier Grundprobleme: Was ist Leben, was Liebe, was ist Wahrheit, was Dichtung. Vor allem als Orlando in der Viktorianischen Epoche eine Frau ist, wird die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts thematisiert. Wegen dieser Passagen wurde Woolf um 1970 im Zuge der Emanzipationsbewegung wiederentdeckt.
Identität ohne Gewissheit
Ob Mann oder Frau: Bei Orlandos Lebenserfahrungen zeigt sich, dass es keine absoluten Gewissheiten gibt. Der Mensch ist ein zusammengesetztes Wesen, bestehend aus vielen Ichs, die sich überlagern. Er ist divers. Das Landestheater Tübingen bringt einen Stoff auf die Bühne, in dem drei Themen auftauchen, die im Moment besonders diskutiert werden. Außer der Diversität ist das die Unterdrückung der Frau und die Frage nach der Geschlechtsidentität.
Sichtbar gemacht wird eine Form der Diversität auf der Bühne: Es gibt keine Individuen, sondern moderne Spielfiguren, die immer wieder in andere Rollen schlüpfen. Besonders wirkungsvoll ist der Einsatz des Reifrocks als Kleidergefängnis in der Viktorianischen Zeit: Die Frau ist eingeschnürt trotz höfischer Pracht. Kräftige Unterstützung bekommt das Geschehen auf dem leeren Bühnenraum durch den Einsatz einer feudalen Lichtregie. Die sechs Szenen werden durch einen farbigen Lichtrahmen begrenzt, jede bekommt eine andere Atmosphäre.
Skeptisch konnte man sein, ob das Publikum ohne Textkenntnis dem Handlungsfaden folgen konnte. Und ob nicht etwas hätte gekürzt werden können. Bleiben die Zuschauer dabei, wenn die „Entschleunigung“ des Geschehens fast zwei Stunden konsequent durchgehalten wird? Es spricht für die Inszenierung und das Kirchheimer Publikum, dass die Spannung bis zum Schluss erhalten blieb und in einen intensiven Beifall mündete. Schließlich gab es viel zu sehen: Ein ästhetisches Vergnügen konnte man haben an der Körpersprache und der schwerelos wirkenden Choreographie dieses Traumspiels. Wie im Roman ist die Poesie stärker als die Wirklichkeit.
Ulrich Staehle