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Das Ziel ist die Rückkehr in die Schule

Pädagogik Wenn es im Schulalltag mal nicht mehr geht, was dann? In Esslingen befindet sich die einzige ambulante Schulreintegrationsgruppe in Deutschland. Von Frederic Feicht

Eine Unordentlichkeit, die von Fleiß zeugt, herrscht im Raum: Auf den Schulheften sind die Stifte aus den offenen Mäppchen verteilt, am Boden die bunten Schulranzen. Die Positionen der kreuz und quer stehenden Stühle verraten, dass sie nur kurz verlassen wurden und darauf warten, dass junge Menschen wieder auf ihnen Platz nehmen, um sich frisch ans Werk zu machen. Eben ein typisches Klassenzimmer während einer Pause. Nur befindet sich dieses spezielle Klassenzimmer nicht in einer Schule, sondern im Zentrum für psychisch belastete Kinder und Familien in Esslingen.

Die 30 Kinder und Jugendlichen machen gerade eine kurze Pause von Mathematik, Deutsch und Englisch, um in einer Gruppensitzung über ihre Gefühle zu sprechen. Laut Monika Herma-Boeters, der Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, handelt es sich um ein deutschlandweit einmaliges Konzept: Vor zehn Jahren gründete sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Sven Dohmen das Therapiezentrum und rief eine ambulante Schulreintegrationsgruppe ins Leben. Das Ziel: Schülern, die am Schulalltag gescheitert sind, wieder zurück auf die Beine und zu einem erfolgreichen Abschluss zu helfen.

 

Im Gegensatz zu stationären Klinikaufenthalten bleibt das soziale Umfeld erhalten.
Monika Herma-Boeters
Fachärztin für Kinder- und Jugend­psychiatrie

 

„Im Gegensatz zu stationären Klinikaufenthalten bleibt bei uns das soziale Umfeld erhalten. Die Kinder und Jugendlichen kommen von Montag bis Freitag von 8 bis 12.30 Uhr zu uns. Mittags sind sie wieder zu Hause und können abends beispielsweise Sportkurse besuchen“, sagt Herma-Boeters. „Ein weiterer Vorteil ist, wenn uns ein Patient heute vorgestellt wird, können wir ihn direkt morgen aufnehmen. Im Klinikum müssen sie acht Monate warten.“ Der Bedarf sei hoch. Laut der Psychiaterin gebe es pro Klasse ungefähr drei Kinder, die durch soziale, medizinische oder intellektuelle Probleme die Schule nicht ohne Hilfe bewerkstelligen können. Im schlimmsten Fall würden sie als unbeschulbar abgestempelt und liefen Gefahr, durch das Ras­ter zu fallen.

Die Gründe, weshalb Kinder den Schulalltag nicht bewältigen können, seien vielseitig: ADHS sei eine Ursache, viele Jugend­liche hätten mit Depressionen zu kämpfen, kämen aus schwierigen Verhältnissen, manche seien aus dem Autismus-Spektrum oder leiden unter einer Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Dyskalkulie – also einer Rechenschwäche.

Derzeit kämen Kinder oft überregional ab der fünften Klasse aufwärts – von jeder Schulart. Sogar zwei junge Erwachsene, die sich bereits in einem Ausbildungsverhältnis befänden, bräuchten die festen Strukturen und die Unterstützung des psychiatrischen Zentrums, um die Berufsschule zu bewältigen.

Je nach Kind müssten individuelle Fähigkeiten trainiert werden. Soziale Kompetenzen, Konzentrationsübungen, Koordinations­übungen, innere Sicherheit, Motivations- und Entspannungs­übungen gehören in Form von Gruppensitzungen und Einzelsitzungen zum Alltag der Schüler. Begleitend würden die Kinder je nach Bedarf medikamentös eingestellt. „Medikamente sind nur eines unserer Standbeine. Medizin allein nützt nichts. Die Schüler müssen etwas dafür tun, dass es ihnen besser geht“, sagt die Psychiaterin. Ganz wichtig ist es auch, die Eltern im Umgang mit den Kindern zu schulen. Natürlich dürfe dabei der Schulstoff nicht vernachläs­sigt werden, um nicht den Anschluss zu verlieren. Die Eltern würden die Unterrichtsmaterialien aus den Schulen holen. „Die Zusammenarbeit mit der Esslinger Innenstadtschule ist sehr gut.“ Im Falle von drei Schülern käme das Unterrichtsmaterial einer Flex-Fernschule per Post. Viel Organisationsaufwand für die 30 Beschäftigten des psychiatrischen Zentrums.

Das erstrangige Ziel sei die erfolgreiche Rückkehr an die Heimatschule. „Wenn sich die Schüler nach einer Weile besser fühlen, gehen sie stundenweise zurück in die Klasse. Erst einmal nur für zwei Stunden“, so die Kinderpsychiaterin. Danach werde die Anzahl der Stunden und Tage langsam gesteigert. Gebe es Rückschritte, dann sei das auch nicht schlimm.

Darum ginge es letztlich auch: Während man an den Schwächen der Kinder arbeite, dürften die individuellen Bedürfnisse nicht aus den Augen verloren werden. Jedes Kind bekomme die Zeit, die es eben brauche. Die Erfolgsquote sei hoch: „97 Prozent schaffen ihren Abschluss“, so Herma-Boeters. Eine besondere Erfolgsgeschichte sei der schwierige Fall einer jungen Autistin gewesen: „Sie war sieben Jahre bei uns und hat es am Ende geschafft, ihre Mittlere Reife zu erlangen. Inzwischen ist sie im dritten Lehrjahr in ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin.“

 

Hilfe für Kinder mit psychischen Problemen

Angebot Das Zentrum für psychisch belastete Kinder und Jugendliche befindet sich in der Esslinger Hindenburgstraße 146. Vom Säugling mit Schlaf- oder Trinkstörung bis zum jungen Erwachsenen mit Alkoholproblem oder Essstörung wird laut der Kinder- und Jugendpsychiaterin Monika Herma-Boeters eng mit den Eltern zusammen bei der Diagnostik und folgend an geeigneten Therapiemaßnahmen gearbeitet.

Leitung Monika Herma-Boeters und Sven Dohmen waren vor der Gründung des Therapiezentrums im Jahr 2013 gemeinsam am Klinikum Esslingen als Chefärztin und Oberarzt im kinderpsychiatrischen Bereich angestellt. Ebenfalls 2013 eröffneten sie die Schulgruppe. Mehr Informationen gibt es online unter: www.kinderpsychiatrie-esslingen.de oder per E-Mail an info@kinderpsychiatrie-esslingen.de. Telefonisch ist das Zentrum unter der Nummer 07 11 / 90 12 64 33 zu erreichen. ff