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Dem Nürtinger Unverpacktladen droht das Aus

Wirtschaft Erst im Herbst 2019 eröffnete der Genossenschaftsladen „Glas und Beutel“ in der Marktstraße in Nürtingen. Nun sieht es so aus, als würde das ambitionierte Projekt scheitern. Von Matthäus Klemke

Neue Werbetafeln hängen in den Schaufenstern des Unverpacktladens in der Marktstraße 10. Eine Anleitung mit Bildern erklärt, wie das Einkaufen im Laden funktioniert. Bei „Glas und Beutel“ geht man in die Werbeoffensive. Das ist auch dringend notwendig, denn um die Zukunft des Genossenschaftsladens steht es nicht gut. Im aktuellen Geschäftsbericht wird der Vorstand deutlich: „Ein weiteres Geschäftsjahr wie das vergangene lässt sich für unseren jungen Laden nun kaum bewerkstelligen.“

Die Bilanz ist alarmierend: Hatte man im Jahr 2021 noch Umsatzerlöse von 222000 Euro, waren es im vergangenen Jahr nur noch knapp 176000 Euro. Das Minus beträgt knapp 16000 Euro. „Der Jahresfehlbetrag von 15820 Euro erhöht die angelaufenen Verluste und stellt eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem Jahresüberschuss von 2021 von 1791 Euro dar“, heißt es im Geschäftsbericht.

Von einer Krise in die nächste

Wie konnte es so weit kommen, dass Vorstandsmitglied Michael Medla und zwei hauptamtliche Mitarbeiterinnen zur Mittagszeit im Laden alleine stehen? Kunden sind keine da. „Es gibt Tage, da kommt überhaupt niemand“, sagt Medla. Die Probleme seien mit der Pandemie und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gekommen. „Wir sind von einer Krise in die nächste gerutscht“, so Medla. Dabei ging es 2019 vielversprechend los.

„Wir hatten einen fulminanten Start“, erinnert sich der Diplom-Jurist. Man sagte den Wegwerf-Verpackungen den Kampf an. Statt in Plastik wird alles in Einmachgläser oder wiederverwendbare Dosen eingepackt. Die Kunden bringen ihre Behälter selbst mit oder bekommen sie vor Ort. Die Genossenschaft startete mit 286 Produkten, darunter Müsli, Gewürze, Waschmittel, Seife, Hülsenfrüchte und Süßwaren – das meiste in Bio-Qualität und von regionalen Zulieferern. „Teil der Idee war es, dass es ein Mitmachprojekt wird“, sagt Medla. Alle ehrenamtlichen Helfer sollten die Möglichkeit bekommen, den Laden mitzugestalten und zum Beispiel über die Produktpalette zu entscheiden. Das Konzept kam gut an, das Team startet mit rund 40 freiwilligen Helfern, das Sortiment wurde stetig erweitert. „Dann kam Corona“, so der 29-Jährige.

Als Lebensmittelladen durfte „Glas und Beutel“ zwar geöffnet bleiben, doch die Kundschaft kam trotzdem nicht. „Viele wussten nicht, dass wir geöffnet hatten. Wir mussten das den Leuten erst erklären.“ Doch nicht nur die Kunden wurden weniger. „In der Pandemie haben viele Ehrenamtliche aufgehört. Nach Corona sind sie leider auch nicht wiedergekommen“, sagt Medla. Mittlerweile seien von den 40 Helfern noch rund 25 übrig. Viele Schichten bleiben unbesetzt, die hauptamtlichen Kräfte müssen alle Aufgaben im Laden selbst übernehmen. Dringend bräuchte es mehr helfende Hände. Doch die fehlenden Umsätze in der Corona-Pandemie habe man noch tragen können, das Geschäftsjahr 2020/2021 sei mit einem blauen Auge überstanden worden. Die Hoffnung war groß, dass sich die Lage wieder stabilisieren würde, doch die Energiekrise habe dem Unverpacktladen einen herben Rückschlag verpasst.

Zu hohe Hemmschwelle

Durch gestiegene Preise habe die Konsumfreude stark nachgelassen. Unverpackt gleich teuer sei noch immer eine vorherrschende Meinung, sagt Medla. Dabei treffe das bei Weitem nicht auf alle Produkte zu. Außerdem sei bei vielen Leuten die Hemmschwelle noch zu hoch. Das Konzept hinter dem Projekt sei nicht jedem klar. Man müsse den Leuten näherbringen, wie sie bei „Glas und Beutel“ einkaufen können.

Hauptziel ist nun die Umsatzsteigerung. Dringend muss Kundenakquise betrieben werden. Deshalb möchte man „sichtbarer“ werden, sagt Medla. „Wir haben 900 Produkte im Laden. Das würde man gar nicht meinen. Man bekommt hier viel mehr, als es auf den ersten Blick aussieht.“ Die Nürtinger müssten sich wieder bewusst machen, dass sie einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten können. „Nürtingen hat eine Riesenchance als nachhaltige Stadt,“ sagt Medla. Der Unverpacktladen biete eine niederschwellige Möglichkeit, Plastikmüll einzusparen.

Neben der Gewinnung neuer Kunden soll aber auch die Aktivierung der Genossenschaftsmitglieder eine zentrale Rolle spielen. Immerhin hat man 402 Mitglieder. „Wir haben ein starkes Rückgrat, aber dieses Rückgrat muss uns jetzt auch tragen“, so Medla. Würden die Mitglieder regelmäßig im Laden einkaufen, wäre dem Projekt schon geholfen.

Die Sommerzeit soll nun genutzt werden, weitere Strategien zu entwickeln. Die Suche nach Sponsoren könnte dabei ebenfalls ein Thema werden.

Sollten die Rettungsversuche nicht greifen, wird es dem Nürtinger Laden bald genauso ergehen, wie vielen anderen Unverpacktläden in Deutschland, fürchtet Medla: „Von rund 340 Läden mussten allein im vergangenen Jahr 70 schließen. Die Lage ist dramatisch, die gesamte Branche wackelt“, so der 29-Jährige. Wird man den Umsatz nicht steigern können, sieht die Prognose für das Geschäft in Nürtingen düster aus: „Dann wird der Laden das Jahr 2024 nicht komplett überstehen.“