Esslingen. Ein Mann kommt blutend in die Zahnarztpraxis. Seine Frau, so erzählt er, habe ihm zwei Zähne ausgeschlagen: „Dafür bringe ich sie um.“ Was soll das Team in der Praxis tun? Die Chefin nennt zwei Alternativen: „Wir können ihn zusammenflicken, seine Blutung stoppen und ihn zu seiner Frau nach Hause schicken. Oder wir verpassen ihm ein Medikament, das ihn außer Gefecht setzt und rufen die Polizei. Das Medikament kann ihn aber auch töten.“ Das Team entscheidet sich für die medizinische Erstversorgung. Kein optimaler Entschluss. Der Mann wird sich an seiner Frau rächen.
Diese gespielte Szene ist mehr als ein Rollenspiel, betont Micha Bröckling. Der Politikwissenschaftler vom Verein „InsideOut“ aus Stuttgart ist mit drei Kolleginnen an die John-F.-Kennedy-Schule nach Esslingen gekommen. Mit Hilfe des von ihrem Verein entwickelten Spiels „XGames“ möchten sie Schülerinnen und Schüler gegen Mechanismen, Methoden und Arbeitsweisen extremistischer Gruppen wappnen: „Es geht allgemein um radikale Tendenzen – egal, ob sie von links, von rechts oder von religiöser Seite kommen.“
Dazu werden die Schüler in zwei Gruppen eingeteilt. Die jungen Erwachsenen bekommen Nummern zugeteilt, müssen schwarz-graue Leibchen tragen und einen Luftballon als Symbol für ihr Leben in der Hand halten. Angeführt, angestiftet und angeleitet wird jede Gruppe von einem Mitglied von „InsideOut“. Sie sind die Chefs, tragen weiße Arztkittel, geben Kommandos, loben und mahnen, schmeicheln und manipulieren. Für Wohlverhalten erhalten die Teams Punkte, die Gruppe mit den meisten Punkten soll 500 Euro bekommen. Am Ende des Szenarios hat ein Team das andere umzingelt: „Ihr werdet alle umgebracht“, werden die Eingeschlossenen bedroht, „ihr könnt dem Tod nur entgehen, wenn ihr einen aus eurer Gruppe tötet.“ Die Umzingelten denken nicht lange nach. Mit einem Kugelschreiber als symbolische Waffe bringen sie den Luftballon, das Lebenssymbol, eines ihrer Gruppenmitglieder zum Platzen.
Arztkittel, Imponiergehabe und das resolute Auftreten seiner Kolleginnen als Gruppenchefs, erläutert Micha Bröckling, stehen für die Arbeitsweisen extremistischer Gruppierungen mit Autoritätsausübung, Einschüchterung, Führerkult und strikten Befehlsketten. Dieses Programm sei schon über 500 Mal vor Gruppen von Schülern, Jugendlichen oder Führungskräften angewandt worden. Doch er habe nur ein einziges Mal erlebt, dass eine Person „Nein“ gesagt habe.
Wer bekommt die 500 Euro Belohnung? „Wir natürlich“, meint das Team mit der höheren Punktzahl. „Nein. Das Geld behalten wir, die Chefs, die Oberen, die Führer“, erklärt Micha Bröckling. Seine Botschaft: Das System gewinnt, Mitläufer gehen leer aus. Auch deshalb hat Florian Leyrer, Lehrer für Gemeinschaftskunde und Demokratiebeauftragter der Schule, „InsideOut“ geholt: „Die Schüler sollen erfahren, dass Demokratie nicht vom Himmel fällt. Man muss sie sich erarbeiten.“
In der Nachbesprechung gibt es Rezepte gegen Extremismus. „Wichtig ist auch, dass ihr euch Verbündete sucht. Sonst gewinnt das System – wie hier – die 500 Euro.“ Den Schülern hat die kreative Einheit trotzdem etwas gebracht: „Unser Teamgeist wurde gestärkt.“ Simone Weiß